Von Gerhard Sielhorst
Kindheit im Krieg: Geboren 1938.
Wie wächst man auf mit den Bomben, die Nacht für Nacht vom Himmel fallen, der besorgten Mutter, den Soldaten und der allgegenwärtigen Angst?
Ein Zeitzeugenbericht.
Sicher weiß ich vieles bis zu meinem 4. oder 5. Lebensjahr von meiner Mutter.
Aber das meiste, was danach passierte, ist mir optisch, akustisch und gefühlsmäßig sehr gut in Erinnerung.
Ich höre heute noch die Sirenen heulen und die herannahenden US-Panzer dröhnen, sehe die grauen deutschen Soldaten, die Menschen mit Hakenkreuz-Armbinden, den feuerroten Himmel am westlichen Ruhrgebietshorizont nach den Bombenangriffen und die Obdachlosentrecks.
Ich rieche den Brandgeruch nach den Fliegerangriffen und fühle noch bis heute die Angst im Bauch, wenn die Bomben einschlugen und die Luftschutzkellertür heftig vibrierte.
Ich denke, wir haben damals alles sehr intensiv erlebt, auf engstem Raum, erfüllt von den gleichen Ängsten, den gleichen Nöten durch Hunger, Kälte und Dunkelheit.
Das Gefühl der Verlassenheit hat uns alle gequält und wir lebten von Tag zu Tag und Nacht zu Nacht.
Keiner wagte es damals auszusprechen, aber jeder hoffte, dass es bald zu Ende sein möge. Das erzählte mir meine Mutter später.
Kindheit im Krieg
Die Lage der Wohnung Auf dem Hohwart 121 war für uns Kinder ein Eldorado.
Hier wohnten, auf neun Mehrfamilien-Häuser verteilt, viele junge Familien. Es gab in unserem Haus einen Milchmann und einen Tante Emma-Laden, groß genug, um in der damaligen Zeit alle Anlieger mit dem „täglichen Brot“ zu versorgen.
Etwa ab meinem 3. Lebensjahr konnte ich mich sehr gut an all die Umstände erinnern, die damals in der Zeit des großen Krieges um mich herum in meiner Kinderwelt geschahen.
Später sagte meine Mutter, vieles wüsste ich wohl mehr vom Hörensagen als vom Selbsterlebten.
Unsere kleine 9‑Häuser-Siedlung war für uns Kinder besonders interessant und aufregend, weil sich in unmittelbarer Nähe zwei Kasernen, die große Dortmunder Pferderennbahn, eine große Straßenbahnendstation in Form eines Rondells und eine Ziegelei befanden.
Hier gab es für Kinder jeden Alters alle nur erdenklichen „Spielplätze“. Wir spielten damals fast nur draußen.
In den Kasernen war ich „der Kleine mit der roten Mütze“ bei den dort stationierten Soldaten immer herzlich willkommen, denn die meisten von ihnen waren selbst Familienväter.
Ich durfte mit ihnen im LKW mitfahren, natürlich vorne im Führerhaus, ich durfte mit ihnen in der Kantine essen und ich durfte auch mitexerzieren ganz hinten in der letzten Reihe mit einem eigenen Gewehr, das sie mir aus Holz geschnitzt hatten.
Oft war ich als 4- bis 5‑Jähriger den ganzen Tag „unter Soldaten“ – bis meine Mutter sich doch Sorgen machte und nach mir suchte, dem Jungen mit der roten Mütze.
Aber sobald sie am Kasernentor aufkreuzte, wurde sie schon vom Wachhabenden beruhigt: „Ihrem Sohn geht es gut, er exerziert gerade“ oder „Er ist gerade mit einem Panzerspähwagen im Gelände.”
Welch´ ein Vergnügen!
Im Luftschutzbunker
Etwa ab 1943 wurden die Luftangriffe der Alliierten heftiger und zahlreicher, sowohl am Tage als auch des Nachts.
Wir mussten immer öfter nach Voralarm schnellstens in die Keller oder in den etwa 400 Meter entfernt liegenden Bunker laufen.
Unsere Mutter ist mit uns nur einmal in den Bunker geflüchtet.
Es war dort eng, halbdunkel, feucht und eine gespenstische Angst lag über allem – soweit ich mich als damals 5‑Jähriger an die Situation erinnern kann.
Wir sind von da an immer nur in unseren Keller gelaufen: das ging schneller, war nicht so eng, und wir hatten unsere eigenen Betten und waren nach Entwarnung auch schnell wieder in unserer warmen Wohnung – ohne Hetze.
Ab 1944 konnte es passieren, dass es drei bis vier Mal in der Nacht Vollalarm gab
Dann hetzten die anderen Hausmitbewohner angsterfüllt und schreiend in den Bunker – und waren so manche Nacht fast nur unterwegs aber nicht im Bett gewesen.
Meine Mutter hatte da bessere Nerven: Wenn es uns erwischen soll, dann kann es im Bunker genauso passieren wie im Luftschutzkeller.
Kriegskinder
Ihre Ruhe hatte sich damals auch auf meinen Bruder und mich übertragen.
So geschah es einmal, dass wegen eines direkten Vollalarms für die anderen der Bunker nicht mehr zu erreichen war und sie auch in den Luftschutzkeller mussten. Die Luftschutz-Kellertüren vibrierten mit einem hohen Pfeifton bei jedem näherkommenden Bombeneinschlag.
Als dann noch das Licht ausfiel und das Ofenrohr nach einer besonders heftigen Detonation aus der Wand flog, da war es um die Fassung der verhinderten Bunkerläufer geschehen: Alles schrie und wimmerte durcheinander, und als das Licht wieder anging, saßen uns und dem Kaminloch gegenüber nur schwarze, rußgefärbte Gesichter.
Einige Nichtgeschwärzte mussten loslachen.
Ich fragte meine Mutter: „Wie sehen die denn aus?“ und mein Bruder Herbert fragte in die anschließende Stille. „Mutter, hast du ein Bonbon?”
Wenn wir dann tagsüber nach Entwarnung die Keller wieder verlassen durften, roch die Luft eigenartig nach Brand, Phosphor und Schwefel.
Wir Kinder schwärmten aus, um Bombensplitter zu suchen. Wer den größten fand, der war Tagessieger.
Einmal hatte einer von uns ein Riesending gefunden – fast direkt vor dem Kasernentor. Er hielt es triumphierend in die Höhe, etwa 40 cm lang, achteckig und mattsilbrig – es war ein Stabbrandbomben- Blindgänger.
Der Wachhabende vor dem Kasernentor rief dem Jungen zu, das Ding vorsichtig auf den Boden zu legen. Doch er warf es, so gut er konnte einige Meter weit auf die Straße – und es explodierte nicht, weil der Blindgänger mit der Rückseite auf dem Asphalt aufschlug.
Der Soldat war schon in Deckung gegangen.
Später hat er ihm den Hintern versohlt.
Er wurde nicht Tagessieger.
Tiefflieger
Nach jedem Luftangriff, besonders nachts, war der Himmel gen Westen, also Dortmund Zentrum, Bochum, Essen usw. immer blutrot erleuchtet.
Ein schrecklich faszinierender Anblick!
Dazu dieser grausame Geruch von Feuer. Sinneseindrücke, die ich bis heute nicht vergessen kann. Noch in der Nacht oder am frühen Morgen nach den Angriffen kamen dann die Trecks der Ausgebombten mit Kind und Kegel und den wenigen Habseligkeiten, die ihnen geblieben waren. Sie suchten Unterkunft oder auch Angehörige, die irgendwie verlorengegangen waren.
Eine immer wiederkehrende, traurige Prozession, die sich immer öfter wiederholte, je näher der Krieg seinem Ende entgegen ging.
Eine schreckliche Situation musste meine Mutter 1944 durchstehen: Wieder einmal Vollalarm ohne Vorankündigung.
Alle hatten es noch in den Luftschutzkeller geschafft. Nur einer nicht; der Kleine mit der roten Mütze, der Gerd.
Er hatte sich mal wieder in den Straßenbahnwagen verspielt und den Alarm nicht mitbekommen. Als er dann losrannte, kamen sie schon im Tiefflug heran: die Tiefflieger der Amis oder Tomis.
Ich wurde von einem Soldaten aus der Kaserne niedergerissen, und wir duckten uns hinter einer Eckmauer der Kaserne; und schon prasselte eine Bordkanonensalve knapp über uns gegen die Wand. Der Putz regnete auf uns nieder, aber wir blieben unversehrt.
Wieder einmal hatte der „Rote-Mützen-Träger“ einen Schutzengel in Gestalt eines unbekannten Soldaten. Er brachte mich nach dem Angriff wohlbehalten nach Hause. Und ich bekam erstmal eine Tracht Prügel von Mutter.
“Der Junge mit der roten Mütze“, ist ein Auszug aus der Biographie Rückblicke von Dr. med. Gerhard Sielhorst, Agentur für Bildbiographien, 2014.
Lesen Sie im nächsten Beitrag: 10 Tage und Nächte lang bombardieren 3000 britische und US-amerikanische Flugzeuge in der “Operation Gomorrha” Hamburg und werfen dabei 9000 Tonnen ‘Material’ ab — zunächst ‘Wohnblockknacker’, anschließend Brandbomben. In der Nacht zum 28. Juli 1943 entzünden sie dadurch im Hamburger Osten einen Feuersturm, in dem über 30.000 Menschen sterben.
Hamburg 1943: Die Operation Gomorrha
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Bildnachweise:
Kinder während eines Luftangriffs (Sowjetische Kinder während eines deutschen Luftangriffs in den ersten Tagen des Krieges. Weißrussland), 24 June 1941, Source RIA Novosti archive, image #137811, https://visualrian.ru/ru/site/gallery/#137811 6x7 film / 6х7 негатив, Author Yaroslavtsev / Ярославцев, Commons:RIA Novosti
B‑17 Flying Fortress, gemeinfrei, Two B‑17 Flying Fortresses’ vapor trails light up the night sky over Eastern Europe
Ruhrgebiet, Luftschutzstollen während Fliegeralarm, Zentralbild II. Weltkrieg 1939 — 45 Luftschutzstollen im Ruhrgebiet, um 1943. Während eines Fliegeralarms, Ruhrgebiet, 1943, Photographer Unknown, Bundesarchiv, Bild 183-R71086 / CC-BY-SA 3.0
Aufnahme des Angriffs auf Pforzheim aus einem der Bomber, Royal Air Force official photographer — https://media.iwm.org.uk/iwm/mediaLib//9/media-9684/large.jpg This is photograph C 5083 from the collections of the Imperial War Museums