Die Erlaubnis zu hassen

Warum folgten Menschen Adolf Hitler? www.generationengesprhc.de

Schlä­ge und Schwei­gen, Ver­drän­gen und Neu-Insze­nie­ren sind die Mus­ter, mit denen die ‘Erzie­hung mit har­ter Hand’ von einer Gene­ra­ti­on an die nächs­te wei­ter­ge­ge­ben wird.

Über die Fas­zi­na­ti­on des Bösen, Ali­ce Mil­ler, Hit­lers Mit­läu­fer und Mör­der und über schwar­ze Päd­ago­gik, die aus Opfern Täter macht. Die Erlaub­nis zu hassen.

Volksgemeinschaft und Mitläufer

Wäh­rend am Abend des 30. Janu­ar 1933 ein Kar­ne­val aus uni­for­mier­ten SA- und SS-Män­nern mit Fackeln bewaff­net und im Stech­schritt die Macht­er­grei­fung fei­ert, glau­ben vie­le Deut­sche an ein rasches Ende des Hitler-Papen-Spuks.

Die Halb­werts­zeit sei­ner Vor­gän­ger war kurz, wes­halb soll­te es Hit­ler als Kanz­ler bes­ser ergehen? 

  • Drei Kanz­ler hat­te die Wei­ma­rer Repu­blik 1932/33 inner­halb von nur sechs Mona­ten ver­schlis­sen: “Wie­der einer futsch”, schreibt Carl von Ossietz­ky nach Schlei­chers Sturz zu Beginn des Jah­res 1933.
    Vie­le rech­nen damit, dass der Füh­rer der NSDAP bei der kom­men­den Reichs­tags­wahl am 5. März 1933 eine kra­chen­de Nie­der­la­ge ein­fah­ren und als Kanz­ler durch den nächs­ten Zen­trums-Mann ersetzt wird …

Nur weni­ge Jah­re spä­ter ist alles anders.

Hit­ler ist der Mann der Stun­de, der inner­halb weni­ger Jah­re ein zer­ris­se­nes Land vom Ran­de eines Bür­ger­kriegs in eine blü­hen­de Volks­ge­mein­schaft verwandelt.

Ein Füh­rer, der die chao­ti­schen Ver­hält­nis­se der Wei­ma­rer Sys­tem­zeit abschafft (mit Gewalt, Fol­ter und Ter­ror — und der Abschaf­fung der Demo­kra­tie) und statt­des­sen Struk­tur, (schein­ba­re) Ord­nung und Arbeit schafft.

Und dabei immer zu gewin­nen scheint. Ist er der Heils­brin­ger und neu­er Mes­si­as, für den ihn vie­le hal­ten? Die Bewun­de­rung im In- und Aus­land hat schein­bar gute Gründe.

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SA-Auf­marsch, Reichs­par­tei­tag 1933. Von Bun­des­ar­chiv, Bild 183‑1987-0410–501 / CC-BY-SA 3.0

Über die fürch­ter­li­chen Kehr­sei­ten des brau­nen Regimes sprach man nicht.
Offen­bar bemerkt nie­mand, dass jüdi­sche Nach­barn, unlieb­sa­me Poli­ti­ker, Jour­na­lis­ten und Künst­ler ein­fach “ver­schwin­den”?

Sei still, sonst kommst du nach Dachau!”

Sei still, sonst kommst du nach Dach­au, ruft man in den 1930er Jah­ren unar­ti­gen Kin­dern hin­ter­her, aber von den Men­schen, die nach Dach­au und in ande­re KZs ver­schwan­den, wie­der zurück­ka­men und über die fürch­ter­li­chen “Umer­zie­hungs­maß­nah­men” im Lager berich­te­ten, woll­te nie­mand etwas wissen.

Wen scher­te es, dass nicht nur der Reichs­tag, son­dern auch Bücher brannten?

Das war der Preis, den der Groß­teil der Deut­schen zu zah­len bereit war, um Teil der glück­li­chen Volks­ge­mein­schaft zu sein.

Vie­le nah­men Dik­ta­tur und Ver­fol­gung ein­fach hin — schließ­lich gehör­te man zu den guten Deut­schen, war weder Kom­mu­nist oder Sozia­list und hat­te kei­ne jüdi­schen Groß­el­tern im Stammbaum.

Wer brav ist, dem pas­siert auch nichts, war die Stim­mung im Volk.

„Adolf Hit­ler hat kei­nen Beruf gelernt. Er hat kei­nen ordent­li­chen Schul­ab­schluss, geschwei­ge denn eine Hoch­schul­aus­bil­dung. Er kann nicht schwim­men und nicht Auto fah­ren. Er spricht auch kei­ne Fremd­spra­chen. Er ist wegen Hoch­ver­rats vor­be­straft, er hat kei­ne Frau und kei­ne Kin­der. Auch einen bes­ten Freund im enge­ren Sin­ne hat er nicht. Er ist klein und unsport­lich. Er ist nicht blond. Er hat Kom­ple­xe wegen einer geni­talen Ver­stüm­me­lung. Und noch immer nagt tief in ihm das Min­der­wer­tig­keits­ge­fühl eines früh Geschei­ter­ten, obwohl er sich ganz offen für den Aus­er­wähl­ten hält. Was also macht die­sen Mann eigent­lich so attrak­tiv, dass ihm an die­sem 20. April 1939 Mil­lio­nen Deut­sche gera­de­zu ent­hemmt zuju­beln?“

Aus: Till­mann Ben­di­kow­ski, Hit­ler­wet­ter: Das ganz nor­ma­le Leben in der Dik­ta­tur: Die Deut­schen und das Drit­te Reich 1938/39*

Das Phänomen Hitler

Aus der Sicht jener Zeit gab es vie­le gute Grün­de, Adolf Hit­ler und den Natio­nal­so­zia­lis­ten zu folgen.

Sebas­ti­an Haff­ner beschreibt in sei­nem Buch ‘Anmer­kun­gen zu Hit­ler’ (1978) eine Stim­mung unter den Deut­schen vom Früh­jahr 1938 bis zum Früh­jahr 1939, in der sich Hit­ler-Geg­ner frag­ten, ob sie nicht im Unrecht wären und die Mil­lio­nen Hit­ler-Anhän­ger recht hätten.

In die­ser Zeit scheint dem Füh­rer alles zu gelingen.

Ende der 1930er Jah­re sol­len mehr als 90 Pro­zent der Deut­schen begeis­ter­te Anhän­ger des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Regimes gewe­sen sein.

„Wenn Hit­ler Ende 1938 einem Atten­tat zum Opfer gefal­len wäre, wür­den nur weni­ge zögern, ihn einen der größ­ten Staats­män­ner der Deut­schen zu nen­nen.“

Aus: Joa­chim Fest, Hit­ler Eine Bio­gra­phie*

Der wich­tigs­te Grund für vie­le: Jeder, der arbei­ten woll­te und konn­te, hat­te Arbeit (bis auf die, die ermor­det oder ver­haf­tet wor­den waren oder flie­hen mussten). 

Mil­lio­nen neu­er Arbeits­plät­ze waren in Rekord­zeit ent­stan­den — eine uner­mess­lich gro­ße Erleich­te­rung nach den Jah­ren des Hun­gers, der Unsi­cher­heit und bei­spiel­lo­ser Armut.

Dafür wer­den die Deut­schen einen hohen Preis bezah­len. Bereits 1937 steht fest, dass es Krieg geben wird. Anders wären die vie­len neu­en Arbeits­plät­ze in der Rüs­tungs­in­dus­trie und im Stra­ßen­bau, die auf Pump finan­ziert wer­den, nicht mög­lich gewesen.

Die Staats­ver­schul­dung und das Haus­halts­de­fi­zit des Drit­ten Rei­ches schie­ßen in astro­no­mi­sche Höhen und kön­nen — rea­lis­tisch gese­hen — nur noch mit einem gewon­ne­nen Krieg bezahlt wer­den. Für den “Füh­rer” stand es von Anfang an fest, dass es Krieg geben wird, obwohl die über­wie­gen­de Mehr­heit der Deut­schen kei­nen Krieg will und Angst davor hat. 

Hitlers Bewunderer

Aber davon bekom­men die meis­ten nichts mit.
Ver­blüfft reibt sich Deutsch­land die Augen und sieht, wie es sich wie Phö­nix aus der Asche aufschwingt.

Ab Mit­te der 1930er Jah­re jagt eine Erfolgs­mel­dung die nächs­te: Auto­bahn­bau, Voll­be­schäf­ti­gung — und sonn­tags gibt es Kuchen nicht nur auf der Kaf­fee­ta­fel der Wohl­ha­ben­den, son­dern auch bei Arbei­ter­fa­mi­li­en. Das kann­ten die bis­lang noch nicht.

Auch außen­po­li­tisch fei­ert Hit­lers Regime einen Erfolg nach dem ande­ren.
1936 ver­kün­det der “Füh­rer” die Wie­der­ein­füh­rung der Wehr­pflicht und setzt wenig spä­ter sei­ne Wehr­macht in Marsch, um das ent­mi­li­ta­ri­sier­te Rhein­land zu besetzen. 

  • Ein ris­kan­tes Vaban­que-Spiel und ein kla­rer Bruch des Ver­sailler Ver­trags. Aber nach­dem ihm Groß­bri­tan­ni­en und Frank­reich außer Pro­test­no­ten nichts ent­ge­gen­set­zen, macht er mit Droh­ge­bär­den und Erpres­sun­gen ein­fach weiter.

1938 wird unter dem Jubel der meis­ten Öster­rei­che­rin­nen und Öster­rei­cher die “Ost­mark” (Öster­reich) ans “Alt­reich” ange­schlos­sen; weni­ge Mona­te spä­ter kehrt das Sude­ten­landHeim in Reich”.

Die Deut­schen sind begeis­tert.
Plötz­lich sind sie nicht mehr Kriegs­ver­lie­rer, son­dern eine Nati­on von Sie­gern (zumin­dest die, die sich zur Volks­gen­mein­schaft zäh­len dürfen.)

Der “Mann des Jahres” 1939

Der “Füh­rer” lässt Bri­ten, Fran­zo­sen und den Rest der Welt mit ihrer Appease­ment- und Nicht-Ein­mi­schungs-Poli­tik ein­fach schlecht aussehen.

Das beein­druckt sogar im Aus­land.
Der Rest der Welt schielt nei­disch auf Hit­lers Drit­tes Reich, denn fast alle Natio­nen haben viel län­ger als Deutsch­land mit den Fol­gen der Welt­wirt­schafts­kri­se zu kämpfen.

Poli­ti­ker in Euro­pa und in den USA bestaun­ten das Phä­no­men ‚Hit­ler‘ halb sor­gen­voll, aber auch halb bewundernd. 

  • In den Nach­bar­staa­ten Deutsch­lands sind der Füh­rer und sei­ne Bewe­gung vor allem bei jun­gen Men­schen außer­or­dent­lich popu­lär und Faschis­mus wird als neue und viel­ver­spre­chen­de Bewe­gung in vie­len Län­dern der Erde salonfähig.
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Hail Mos­ley! Der bri­ti­sche Flirt mit dem Nationalsozialismus

Noch im Jahr 1939 erklärt das ame­ri­ka­ni­sche Nach­rich­ten­ma­ga­zin Time Hit­ler zum „Mann des Jah­res“. Als Begrün­dung führt man an, dass Hit­ler 1938 den Gang der Ereig­nis­se am stärks­ten beein­flusst und für die meis­ten Schlag­zei­len gesorgt habe — mit der “Sude­ten­kri­se” und dem Mün­che­ner Abkom­men.

Mit der glei­chen Begrün­dung hät­te man auch Wla­di­mir Wla­di­mi­ro­witsch Putin 2022 nach sei­nem Über­fall auf die Ukrai­ne zum  „Mann des Jah­res“ wäh­len können.

Am Anfang war Erziehung

Aber wie wer­den aus bra­ven Mit­läu­fern Mörder?

In ihrem Buch Am Anfang war Erzie­hung beschreibt die Schwei­zer Autorin und Psy­cho­ana­ly­ti­ke­rin Ali­ce Mil­ler die Kind­heit und Jugend Adolf Hit­lers als “erzo­ge­nes Kind” eines tief gestör­ten und prü­geln­den Vaters und einer lie­be­vol­len, aber hilf­lo­sen Mut­ter: Vom ver­bor­ge­nen zum mani­fes­ten Grauen

Adolf Hit­lers Kind­heit war weder unge­wöhn­lich noch unter­schied sie sich von der, die Mil­lio­nen ande­re erle­ben und erdul­den mussten. 

In die­ser „Erzie­hung“ durch schwar­ze Päd­ago­gik — so wie sie in die­ser Zeit von vie­len Eltern (und Leh­rern) prak­ti­ziert wur­de —  sieht Mil­ler den eigent­li­chen Grund für das mil­lio­nen­fa­che Schwei­gen und Mitmachen.

Alice Miller Die Erlaubnis zu hassen Generationengespräch

… Denn jedes Kind lernt durch Nach­ah­mung.
Sein Kör­per lernt nicht das, was wir ihm mit Wor­ten bei­brin­gen woll­ten, son­dern das, was die­ser Kör­per erfah­ren hat. Daher lernt ein geschla­ge­nes, ver­letz­tes Kind zu schla­gen und zu ver­let­zen, wäh­rend das beschütz­te und respek­tier­te Kind lernt, Schwä­che­re zu respek­tie­ren und zu beschüt­zen.
Weil es nur die­se Erfah­rung kennt.“


Aus: Ali­ce Mil­ler, Dein geret­te­tes Leben

Schlä­ge, Demü­ti­gun­gen und die mil­lio­nen­fach erlit­te­nen Kind­heits­er­fah­run­gen der ‘Erzie­hung mit har­ter Hand’ sieht Mil­ler als eigent­li­che Ursa­che dafür, dass die meis­ten Deut­schen ihrem Füh­rer bedin­gungs­los folgten.

Sie kann­ten es nicht anders.

Schläge und Schweigen

Schlä­ge und Beschimp­fun­gen als all­täg­li­che Erzie­hungs­maß­nah­men - also alles, was man bis weit ins 20. Jahr­hun­dert für “gute” und “sinn­vol­le” Erzie­hung hielt — haben fata­le Folgen.

Vie­le Men­schen hat­ten in ihrer Kind­heit gelernt, dass auf­mu­cken hart bestraft wird.

Doch schlim­mer als Schlä­ge und Här­te ist ein zwei­ter Aspekt, der die Wir­kung von Prü­ge­lei und Demü­ti­gun­gen poten­ziert: Die Opfer müs­sen schweigen.

  • Das “Gebot zur Scho­nung der Eltern“, wie es Ali­ce Mil­ler nennt, ver­bie­tet dem ‚erzo­ge­nen‘ Kind, an der Hal­tung und den Maß­nah­men sei­ner Erzie­her zu lei­den oder gar zu zweifeln.

Kin­der wach­sen dadurch im Glau­ben auf, dass das, was ihnen an Stra­fe wider­fährt, völ­lig rech­tens und von ihnen selbst durch ‚Unar­tig­keit‘ pro­vo­ziert wor­den wäre.

Erlit­te­nes Unrecht wird des­halb nicht als Unrecht emp­fun­den.
Ein Grund, wes­halb vie­le Deut­sche Hit­lers Gräu­el­ta­ten auch nach dem Krieg noch ent­schul­dig­ten: von “Davon hat der Füh­rer bestimmt nichts gewusst!” bis “Die Juden hat­ten selbst schuld.”

Es ist eine der Ursa­chen, die aus Mit­läu­fern Ver­fol­ger wer­den ließ.

Verdrängen und Neu-Inszenieren

Das Ver­bot, an den Erzie­hungs­maß­nah­men der schwar­zer Päd­ago­gik zu lei­den und das gleich­zei­ti­ge Gebot, den Voll­stre­cker als “gerecht” wahr­neh­men zu müs­sen, kann bei den Betrof­fe­nen zu Ver­drän­gung und Lei­dens-Unfä­hig­keit führen: 

Ein India­ner kennt kei­nen Schmerz“ wird zur Lebensmaxime.

Hit­ler-Bio­graf J. Toland schreibt beispielsweise:

„Vie­le Jah­re spä­ter erzähl­te Hit­ler einer sei­ner Sekre­tä­rin­nen, er habe ein­mal in einem Aben­teu­er­ro­man gele­sen, es sei ein Zei­chen von Mut, sei­nen Schmerz nicht zu zei­gen.
Und so ’nahm ich mir vor, bei der nächs­ten Tracht Prü­gel kei­nen Laut von mir zu geben. Und als dies soweit war – ich weiß noch, mei­ne Mut­ter stand drau­ßen ängst­lich vor der Tür –, habe ich jeden Schlag mit­ge­zählt. Die Mut­ter dach­te, ich sei ver­rückt gewor­den, als ich ihr stolz strah­lend berich­te­te: ‚Zwei­und­drei­ßig Schlä­ge hat mir der Vater gege­ben!“


John Toland, zitiert nach Ali­ce Mil­ler*

Was macht ein Kind, das den Maß­nah­men sei­ner Erzie­her hilf­los aus­ge­lie­fert ist und außer­dem noch dar­über schwei­gen muss?

  • Es gibt unzäh­li­ge ‚Tech­ni­ken‘, damit umzu­ge­hen“, schreibt Ali­ce Mil­ler, doch oft blei­be dem Kind kei­ne ande­re Wahl, als das Trau­ma zu ver­drän­gen (Abspal­tung) und die Täter zu idea­li­sie­ren.

Der jäh­zor­ni­ge und prü­geln­de Vater wird in der Erin­ne­rung zum har­ten, aber gerech­ten und wohl­mei­nen­den Patriarchen.

Die Wie­der­ho­lung und Neu-Insze­nie­rung der bekann­ten Kind­heits­mus­ter, ist ein wei­te­rer Ver­such, mit Erfah­run­gen und Ver­let­zun­gen aus der Kind­heit umzugehen.

  • Die­ses Mal aller­dings mit anders besetz­ten Rol­len: Miss­han­del­te Kin­der demü­ti­gen und miss­han­deln als Eltern oft ihre eige­nen Kin­der, Müt­ter, die als Kind nicht geliebt wur­den, sind häu­fig nicht oder kaum in der Lage, ihre eige­nen Kin­der zu lieben.

Das ist der tra­gi­sche Weg, mit dem die Metho­den und Prin­zi­pi­en der Schwar­zen Päd­ago­gik von einer Gene­ra­ti­on auf die nächs­te über­tra­gen und neu insze­niert wer­den kann — aus Opfern wer­den Täter.

Die Erlaubnis zu hassen

Hit­lers Neu­in­sze­nie­rung bestand in sei­ner Rol­le als “Füh­rer” und gleich­zei­tig Vater­er­satz. Er und sein Regime zwan­gen das “Volk” in einen tota­li­tä­ren Staat, in dem das Schick­sal der Schwä­che­ren von den Stim­mun­gen und Lau­nen eines unum­strit­te­nen Herr­schers abhän­gig war.

Die Wur­zeln für Hit­lers Auf­stieg und sei­ne Popu­la­ri­tät sieht Ali­ce Mil­ler vor allem in den  Metho­den der Schwar­zen Päd­ago­gik, die weit ver­brei­tet waren: Vie­le  taten ein­fach das, was sie in ihren Kin­der­jah­ren gelernt hat­ten — sie gehorchten.

Aber vie­le Anhän­ger Hit­lers gehorch­ten nicht nur, son­dern wur­den selbst zu Verfolgern.

Ver­fol­gen beruht auf abge­wehr­tem Opfer­sein“, ist eine wei­te­re wich­ti­ge The­se von Ali­ce Mil­ler.
Hit­ler gab sei­nen Anhän­gern die Opfer, die sie brauch­ten. Und er gab ihnen die Erlaub­nis zu hassen.

Auch die Dis­kri­mi­nie­rung und schließ­lich die Ver­fol­gung von Juden dien­te der Beschaf­fung von ‘fri­schem Geld’ für den bevor­ste­hen­den Krieg. 

Aber gleich­zei­tig lie­fer­te das Regime Hit­lers Anhän­gern mit der Ver­fol­gung von Juden, Homo­se­xu­el­len und ande­ren Min­der­hei­ten, das Ven­til, um Demü­ti­gun­gen und Miss­hand­lun­gen aus ihrer Kind­heit neu zu inszenieren.

Hit­ler und das NS-Regime gaben ihnen Sün­den­bö­cke.
Und die Erlaub­nis, ihre Wut und ihren Frust über Demü­ti­gun­gen und Schlä­ge in der Kind­heit frei­en Lauf zu lassen. 

Die Erlaub­nis zu hassen.

… Viel­leicht wird jemand sagen: Nicht jeder, der als Kind geschla­gen wur­de, muss ein Mör­der wer­den, sonst wür­den doch fast alle Men­schen zu Mör­dern. Das ist in gewis­sem Sinn rich­tig.
Doch so fried­lich ist es heu­te nicht um die Mensch­heit bestellt, und wir wis­sen nie, was ein Kind aus dem ihm gegen­über began­ge­nen Unrecht machen wird und muss, es gibt unzäh­li­ge ‚Tech­ni­ken‘, damit umzu­ge­hen.
Aber vor allem wis­sen wir noch nicht, wie die Welt aus­se­hen könn­te, wenn Kin­der ohne Demü­ti­gung, von ihren Eltern als Mensch geach­tet und ernst­ge­nom­men, auf­wach­sen wür­den.


Mir ist jeden­falls kein Mensch bekannt, der als Kind die­se Ach­tung genos­sen und spä­ter als Erwach­se­ner das Bedürf­nis gehabt hät­te, ande­re Men­schen umzu­brin­gen.”

Aus: Ali­ce Mil­ler, Am Anfang war Erzie­hung*

Nachtrag: Über Alice Miller

Die Schwei­zer Autorin und Psy­cho­ana­ly­ti­ke­rin wur­de 1923 als ältes­te Toch­ter einer jüdisch-ortho­do­xen Fami­lie im pol­ni­schen Pio­trków gebo­ren, ihr eigent­li­cher Name lau­te­te Ali­ci­ja Eng­lard

Die deut­sche Besat­zung Polens wäh­rend des Zwei­ten Welt­krie­ges über­leb­te sie mit fal­scher Iden­ti­tät in War­schau, spä­ter stu­dier­te sie Lite­ra­tur­ge­schich­te und Phi­lo­so­phie an der Uni­ver­si­tät Basel, wo sie im Fach Phi­lo­so­phie ihren Dok­tor­ti­tel erlang­te. Nach Abschluss des geis­tes­wis­sen­schaft­li­chen Stu­di­ums begann Mil­ler in Zürich eine Aus­bil­dung in freu­dia­ni­scher Psychoanalyse.

1980 gab Ali­ce Mil­ler nach über 20 Jah­ren ihre Arbeit als Psy­cho­ana­ly­ti­ke­rin und Lehr­ana­ly­ti­ke­rin auf, um sich sys­te­ma­tisch der Erfor­schung der Kind­heit zu wid­men. Mehr und mehr setz­te sie sich kri­tisch mit der Psy­cho­ana­ly­se aus­ein­an­der, die ihrer Mei­nung nach zu sehr auf den Prin­zi­pi­en der „Schwar­ze Päd­ago­gik“ basie­re: „Bis­her schütz­te die Gesell­schaft die Erwach­se­nen und beschul­dig­te die Opfer“, lau­tet eine ihrer Thesen.

  • 1984 erklär­te sie ihre Abkehr von der Psy­cho­ana­ly­se und woll­te auch nicht mehr als Psy­cho­ana­ly­ti­ke­rin bezeich­net werden.

Wie schwie­rig es ist, die eige­nen Erfah­run­gen als ‚gut erzo­ge­nes‘ Kind im Erwach­se­nen­al­ter abzu­le­gen und alte, über­kom­me­ne Mus­ter nicht an die eige­nen Kin­der wei­ter­zu­ge­ben, hat Ali­ce Mil­lers Sohn Mar­tin beschrie­ben: Drei Jah­re nach Tod sei­ner Mut­ter im Jahr 2010 ver­öf­fent­lich­te er sei­nen Lebens­be­richt als eige­nes Buch mit dem Titel: „Das wah­re Dra­ma des begab­ten Kin­des“, Unter­ti­tel: „Die Tra­gö­die Ali­ce Mil­lers – wie ver­dräng­te Kriegs­trau­ma­ta in der Fami­lie wirken.”

Copy­right: Agen­tur für Bild­bio­gra­phien, www​.bild​bio​gra​phien​.de, 2016 (aktua­li­siert 2024)

Lesen Sie im nächs­ten Bei­trag: Es war wäh­rend des Drit­ten Rei­ches ein Best­sel­ler und galt als d e r Leit­fa­den zur Kin­der­er­zie­hung. Über die NS-Päd­ago­gik und Johan­na Haa­r­ers Mach­werk.
Zwi­schen Drill und Miss­hand­lung: Die deut­sche Mut­ter und ihr ers­tes Kind

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Till­mann Ben­di­kow­ski, Hit­ler­wet­ter: Das ganz nor­ma­le Leben in der Dik­ta­tur: Die Deut­schen und das Drit­te Reich 1938/39* ‎ Pan­the­on Ver­lag; Taschen­buch, 2023

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GEO Epo­che, Deutsch­land unter dem Haken­kreuz, Teil 1: 1933 — 1936. Die ers­ten 1000 Tage der Dik­ta­tur*, Gru­ner + Jahr, 2013

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Der Fall Col­li­ni Prime Video*

Wei­ter­füh­ren­de Beiträge:

War­te nur, bis Vati kommt …! Die Wirt­schafts­wun­der­jah­re gel­ten bis heu­te als glück­li­che Zeit. Mit Pol­­ka-Dots, Pet­­ti­­coat-Klei­­dern, Nie­ren­ti­schen und viel Pas­tell sind sie auch optisch eine Zäsur zu den tris­ten Kriegs­jah­ren. Doch der schö­ne Schein trügt. Eine Kind­heit in den 1950er und 1960er Jah­ren ist oft alles ande­re als glück­lich.
War­te nur, bis Vati kommt! Kind­heit in den 1950er und 1960er Jahre

Die Kind­heit und Jugend Adolf Hit­lers als geprü­gel­ter Sohn eines „erzie­hen­den“ Vaters und einer lie­be­vol­len, aber schwa­chen Mut­ter. Lie­gen hier die Wur­zeln für sei­nen Hass, der ihn zu einem der grau­sams­ten Dik­ta­to­ren und Kriegs­her­ren in der Geschich­te mach­te?
Vom ver­bor­ge­nen zum mani­fes­ten Grau­en: Kind­heit und Jugend Adolf Hitlers

Deutsch­land 1937: Das „Drit­te Reich“ ist für vie­le Deut­sche zu einer Art „Wohl­fühl­dik­ta­tur“ gewor­den mit Voll­be­schäf­ti­gung und Volks­ge­mein­schaft. Nur die Angst vor einem mög­li­chen neu­en Krieg trübt die gute Stim­mung — ab Herbst 1937 wird die “Volks­gas­mas­ke” aus­ge­ge­ben.
Deutsch­land 1937: Der Weg in den Zwei­ten Weltkrieg

Kind­heit und Erzie­hung: Die Kind­heit ist die prä­gends­te Zeit in unse­rem Leben. Über Müt­ter und Väter, Geschwis­ter­lie­be, trans­ge­ne­ra­tio­na­le Ver­er­bung und Kind­heits­mus­ter, die uns unser gesam­tes Leben beglei­ten.
Kind­heit und Erzie­hung I Generationengespräch

Psy­cho­lo­gie: Fami­li­en­ban­de und Zwi­schen­mensch­li­ches, das Mit­ein­an­der der Gene­ra­tio­nen, Stim­mun­gen, Gefüh­le und die Psy­cho­lo­gie, die dahin­ter steckt und unser Glück beein­flusst.
Psy­cho­lo­gie I Generationengespräch

Link­emp­feh­lun­gen:

Spie­gel Online: Die deut­sche Kata­stro­phe. Georg Bönisch über Joa­chim Fests Meis­ter­werk „Hit­ler. Eine Bio­gra­phie“
https://www.spiegel.de/spiegel/print/d‑50828283.html

Über das Buch „Das wah­re ‚Dra­ma des begab­ten Kin­des’“ von Mar­tin Mil­ler. Der Tages­spie­gel: “Die Mas­ke der Kin­der­recht­le­rin”:
https://​www​.tages​spie​gel​.de/​k​u​l​t​u​r​/​m​a​r​t​i​n​-​m​i​l​l​e​r​s​-​b​u​c​h​-​u​e​b​e​r​-​s​e​i​n​e​-​m​u​t​t​e​r​-​a​l​i​c​e​-​d​i​e​-​m​a​s​k​e​-​d​e​r​-​k​i​n​d​e​r​r​e​c​h​t​l​e​r​i​n​/​8​7​9​3​7​6​2​.​h​tml

Bild­nach­wei­se:

Am Schei­de­weg. Foto: Agen­tur für Bild­bio­gra­phien

ADN-ZB/­Ar­chiv Deutsch­land Ber­lin: Wohl­tä­tig­keits­spei­sung armer Leu­te durch die evan­ge­li­sche Kir­chen­ge­mein­de In Ber­lin Nie­der­schön­hau­sen wer­den durch die evan­ge­li­sche Kir­chen­ge­mein­de arme Leu­te gespeist. Die Reichs­wehr hat eine Gou­lasch­ka­no­ne und 2 Mann zur Ver­fü­gung gestellt. Die Kos­ten der Spei­sung bringt die Kir­chen­ge­mein­de durch frei­wil­li­ge Spen­den auf. Jedes Mit­glied zahlt pro Tag 10 Pfen­ni­ge vor­läu­fig für die Dau­er von 3 Mona­ten. Von Bun­des­ar­chiv, Bild 183-T0706-501 / CC-BY-SA 3.0 (Auf­nah­me: 1931) 5417–31

Ber­lin, Olym­pia­de, Sie­ger­eh­rung Fünf­kampf Olym­pi­sche Spie­le 1936 Sie­ger-Ehrung im Fünf­kampf auf der Sie­ger-Tri­bü­ne von rechts nach links: Ober­leut­nant Abba-Ita­li­en (II.) Haupt­mann Hand­rick-Deutsch­land (I.) Leut­nant Leo­nard-USA (III.) Fot. Stemp­ka. Bun­des­ar­chiv, Bild 183-G00825 / Stemp­ka / CC-BY-SA 3.0

SA-Auf­marsch, Reichs­par­tei­tag 1933. Von Bun­des­ar­chiv, Bild 183‑1987-0410–501/ CC-BY-SA 3.0

Generationengespräch Blog Geschichte und Psychologie
Geschich­te & Psy­cho­lo­gie:

Vergangenes verstehen,
um mit der Zukunft besser klar zu kommen.

Wir schrei­ben Geschichte(n): Ich brin­ge Ihre Lebens‑, Fami­li­en- und Unter­neh­mens­ge­schich­ten ins Buch: Agen­tur für Bild­bio­gra­phien und unter­stüt­ze Sie als Ghost­wri­te­rin beim Schrei­ben Ihrer Tex­te. Besu­chen Sie auch mei­nen zwei­ten Blog Geschen­ke made for Mama mit vie­len span­nen­den Bei­trä­gen zum The­ma “Bes­ser leben” und “Gesund älter­wer­den”.

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