Der Junge mit der roten Mütze

Von Ger­hard Sielhorst

Kriegskinder Die vergessene Generation Zeitzeugen Generationengespräch


Kind­heit im Krieg: Gebo­ren 1938.
Wie wächst man auf mit den Bom­ben, die Nacht für Nacht vom Him­mel fal­len, der besorg­ten Mut­ter, den Sol­da­ten und der all­ge­gen­wär­ti­gen Angst?

Ein Zeit­zeu­gen­be­richt
.

Sicher weiß ich vie­les bis zu mei­nem 4. oder 5. Lebens­jahr von mei­ner Mut­ter.
Aber das meis­te, was danach pas­sier­te, ist mir optisch, akus­tisch und gefühls­mä­ßig sehr gut in Erinnerung. 

Ich höre heu­te noch die Sire­nen heu­len und die her­an­na­hen­den US-Pan­zer dröh­nen, sehe die grau­en deut­schen Sol­da­ten, die Men­schen mit Haken­kreuz-Arm­bin­den, den feu­er­ro­ten Him­mel am west­li­chen Ruhr­ge­biets­ho­ri­zont nach den Bom­ben­an­grif­fen und die Obdachlosentrecks.

Ich rie­che den Brand­ge­ruch nach den Flie­ger­an­grif­fen und füh­le noch bis heu­te die Angst im Bauch, wenn die Bom­ben ein­schlu­gen und die Luft­schutz­kel­ler­tür hef­tig vibrierte.

Totaler Krieg 1943 Generationengespräch
Hit­lers Krieg: Der tota­le Krieg 1943

Ich den­ke, wir haben damals alles sehr inten­siv erlebt, auf engs­tem Raum, erfüllt von den glei­chen Ängs­ten, den glei­chen Nöten durch Hun­ger, Käl­te und Dunkelheit. 

Das Gefühl der Ver­las­sen­heit hat uns alle gequält und wir leb­ten von Tag zu Tag und Nacht zu Nacht.

Kei­ner wag­te es damals aus­zu­spre­chen, aber jeder hoff­te, dass es bald zu Ende sein möge. Das erzähl­te mir mei­ne Mut­ter später.

Kindheit im Krieg

Die Lage der Woh­nung Auf dem Hoh­wart 121 war für uns Kin­der ein Eldo­ra­do.
Hier wohn­ten, auf neun Mehr­fa­mi­li­en-Häu­ser ver­teilt, vie­le jun­ge Fami­li­en. Es gab in unse­rem Haus einen Milch­mann und einen Tan­te Emma-Laden, groß genug, um in der dama­li­gen Zeit alle Anlie­ger mit dem „täg­li­chen Brot“ zu versorgen.

Etwa ab mei­nem 3. Lebens­jahr konn­te ich mich sehr gut an all die Umstän­de erin­nern, die damals in der Zeit des gro­ßen Krie­ges um mich her­um in mei­ner Kin­der­welt geschahen. 

Spä­ter sag­te mei­ne Mut­ter, vie­les wüss­te ich wohl mehr vom Hören­sa­gen als vom Selbsterlebten.

Unse­re klei­ne 9‑Häu­ser-Sied­lung war für uns Kin­der beson­ders inter­es­sant und auf­re­gend, weil sich in unmit­tel­ba­rer Nähe zwei Kaser­nen, die gro­ße Dort­mun­der Pfer­de­renn­bahn, eine gro­ße Stra­ßen­bah­nend­sta­ti­on in Form eines Ron­del­ls und eine Zie­ge­lei befanden.

Hier gab es für Kin­der jeden Alters alle nur erdenk­li­chen „Spiel­plät­ze“. Wir spiel­ten damals fast nur draußen.

In den Kaser­nen war ich „der Klei­ne mit der roten Müt­ze“ bei den dort sta­tio­nier­ten Sol­da­ten immer herz­lich will­kom­men, denn die meis­ten von ihnen waren selbst Familienväter.

Ich durf­te mit ihnen im LKW mit­fah­ren, natür­lich vor­ne im Füh­rer­haus, ich durf­te mit ihnen in der Kan­ti­ne essen und ich durf­te auch mit­ex­er­zie­ren ganz hin­ten in der letz­ten Rei­he mit einem eige­nen Gewehr, das sie mir aus Holz geschnitzt hatten.

Oft war ich als 4- bis 5‑Jähriger den gan­zen Tag „unter Sol­da­ten“ – bis mei­ne Mut­ter sich doch Sor­gen mach­te und nach mir such­te, dem Jun­gen mit der roten Mütze.

Aber sobald sie am Kaser­nen­tor auf­kreuz­te, wur­de sie schon vom Wach­ha­ben­den beru­higt: „Ihrem Sohn geht es gut, er exer­ziert gera­de“ oder „Er ist gera­de mit einem Pan­zer­späh­wa­gen im Gelän­de.”

Welch´ ein Vergnügen!

Im Luftschutzbunker

Etwa ab 1943 wur­den die Luft­an­grif­fe der Alli­ier­ten hef­ti­ger und zahl­rei­cher, sowohl am Tage als auch des Nachts.

Wir muss­ten immer öfter nach Vor­alarm schnells­tens in die Kel­ler oder in den etwa 400 Meter ent­fernt lie­gen­den Bun­ker lau­fen.
Unse­re Mut­ter ist mit uns nur ein­mal in den Bun­ker geflüchtet.

Luftkrieg Deutschland Zweiter Weltkrieg Generationengespräch
Two B‑17 Fly­ing Fort­res­ses’ vapor trails light up the night sky over Eas­tern Euro­pe, gemeinfrei

Es war dort eng, halb­dun­kel, feucht und eine gespens­ti­sche Angst lag über allem – soweit ich mich als damals 5‑Jähriger an die Situa­ti­on erin­nern kann. 

Wir sind von da an immer nur in unse­ren Kel­ler gelau­fen: das ging schnel­ler, war nicht so eng, und wir hat­ten unse­re eige­nen Bet­ten und waren nach Ent­war­nung auch schnell wie­der in unse­rer war­men Woh­nung – ohne Hetze. 

Ab 1944 konn­te es pas­sie­ren, dass es drei bis vier Mal in der Nacht Voll­alarm gab

Dann hetz­ten die ande­ren Haus­mit­be­woh­ner angst­er­füllt und schrei­end in den Bun­ker – und waren so man­che Nacht fast nur unter­wegs aber nicht im Bett gewesen. 

Mei­ne Mut­ter hat­te da bes­se­re Ner­ven: Wenn es uns erwi­schen soll, dann kann es im Bun­ker genau­so pas­sie­ren wie im Luftschutzkeller.

Der totale Krieg 1943 Generationengespräch
Luft­schutz­stol­len im Ruhr­ge­biet, um 1943. Wäh­rend eines Flie­ger­alarms, Ruhr­ge­biet, 1943, Pho­to­grapher Unknown, Bundesarchiv

Kriegskinder

Ihre Ruhe hat­te sich damals auch auf mei­nen Bru­der und mich übertragen.

So geschah es ein­mal, dass wegen eines direk­ten Voll­alarms für die ande­ren der Bun­ker nicht mehr zu errei­chen war und sie auch in den Luft­schutz­kel­ler muss­ten. Die Luft­schutz-Kel­ler­tü­ren vibrier­ten mit einem hohen Pfeif­ton bei jedem näher­kom­men­den Bombeneinschlag.

Als dann noch das Licht aus­fiel und das Ofen­rohr nach einer beson­ders hef­ti­gen Deto­na­ti­on aus der Wand flog, da war es um die Fas­sung der ver­hin­der­ten Bun­ker­läu­fer gesche­hen: Alles schrie und wim­mer­te durch­ein­an­der, und als das Licht wie­der anging, saßen uns und dem Kamin­loch gegen­über nur schwar­ze, ruß­ge­färb­te Gesichter. 

Eini­ge Nicht­ge­schwärz­te muss­ten los­la­chen.
Ich frag­te mei­ne Mut­ter: „Wie sehen die denn aus?“ und mein Bru­der Her­bert frag­te in die anschlie­ßen­de Stil­le. „Mut­ter, hast du ein Bon­bon?”

Wenn wir dann tags­über nach Ent­war­nung die Kel­ler wie­der ver­las­sen durf­ten, roch die Luft eigen­ar­tig nach Brand, Phos­phor und Schwefel.

Wir Kin­der schwärm­ten aus, um Bom­ben­split­ter zu suchen. Wer den größ­ten fand, der war Tagessieger. 

Ein­mal hat­te einer von uns ein Rie­sen­ding gefun­den – fast direkt vor dem Kaser­nen­tor. Er hielt es tri­um­phie­rend in die Höhe, etwa 40 cm lang, acht­eckig und matt­silb­rig – es war ein Stab­brand­bom­ben- Blindgänger.

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Auf­nah­me des Angriffs auf Pforz­heim aus einem der Bom­ber, Roy­al Air Force offi­ci­al photographer

Der Wach­ha­ben­de vor dem Kaser­nen­tor rief dem Jun­gen zu, das Ding vor­sich­tig auf den Boden zu legen. Doch er warf es, so gut er konn­te eini­ge Meter weit auf die Stra­ße – und es explo­dier­te nicht, weil der Blind­gän­ger mit der Rück­sei­te auf dem Asphalt aufschlug. 

Der Sol­dat war schon in Deckung gegan­gen.
Spä­ter hat er ihm den Hin­tern ver­sohlt.
Er wur­de nicht Tagessieger.

Tiefflieger

Nach jedem Luft­an­griff, beson­ders nachts, war der Him­mel gen Wes­ten, also Dort­mund Zen­trum, Bochum, Essen usw. immer blut­rot erleuchtet.

Ein schreck­lich fas­zi­nie­ren­der Anblick!
Dazu die­ser grau­sa­me Geruch von Feu­er. Sin­nes­ein­drü­cke, die ich bis heu­te nicht ver­ges­sen kann. Noch in der Nacht oder am frü­hen Mor­gen nach den Angrif­fen kamen dann die Trecks der Aus­ge­bomb­ten mit Kind und Kegel und den weni­gen Hab­se­lig­kei­ten, die ihnen geblie­ben waren. Sie such­ten Unter­kunft oder auch Ange­hö­ri­ge, die irgend­wie ver­lo­ren­ge­gan­gen waren.

Eine immer wie­der­keh­ren­de, trau­ri­ge Pro­zes­si­on, die sich immer öfter wie­der­hol­te, je näher der Krieg sei­nem Ende ent­ge­gen ging.

Eine schreck­li­che Situa­ti­on muss­te mei­ne Mut­ter 1944 durch­ste­hen: Wie­der ein­mal Voll­alarm ohne Vor­ankün­di­gung.
Alle hat­ten es noch in den Luft­schutz­kel­ler geschafft. Nur einer nicht; der Klei­ne mit der roten Müt­ze, der Gerd.

Er hat­te sich mal wie­der in den Stra­ßen­bahn­wa­gen ver­spielt und den Alarm nicht mit­be­kom­men. Als er dann los­rann­te, kamen sie schon im Tief­flug her­an: die Tief­flie­ger der Amis oder Tomis.

Ich wur­de von einem Sol­da­ten aus der Kaser­ne nie­der­ge­ris­sen, und wir duck­ten uns hin­ter einer Eck­mau­er der Kaser­ne; und schon pras­sel­te eine Bord­ka­no­nen­sal­ve knapp über uns gegen die Wand. Der Putz reg­ne­te auf uns nie­der, aber wir blie­ben unversehrt.

Wie­der ein­mal hat­te der „Rote-Müt­zen-Trä­ger“ einen Schutz­en­gel in Gestalt eines unbe­kann­ten Sol­da­ten. Er brach­te mich nach dem Angriff wohl­be­hal­ten nach Hau­se. Und ich bekam erst­mal eine Tracht Prü­gel von Mutter.

Der Jun­ge mit der roten Müt­ze“, ist ein Aus­zug aus der Bio­gra­phie Rück­bli­cke von Dr. med. Ger­hard Siel­horst, Agen­tur für Bild­bio­gra­phien, 2014.

Lesen Sie im nächs­ten Bei­trag: 10 Tage und Näch­te lang bom­bar­die­ren 3000 bri­ti­sche und US-ame­ri­ka­ni­sche Flug­zeu­ge in der “Ope­ra­ti­on Gomor­rha” Ham­burg und wer­fen dabei 9000 Ton­nen ‘Mate­ri­al’ ab — zunächst ‘Wohn­block­kna­cker’, anschlie­ßend Brand­bom­ben. In der Nacht zum 28. Juli 1943 ent­zün­den sie dadurch im Ham­bur­ger Osten einen Feu­er­sturm, in dem über 30.000 Men­schen ster­ben.
Ham­burg 1943: Die Ope­ra­ti­on Gomorrha

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Ein sehr gutes Buch über Kriegs­kin­der, denen wäh­rend des Krie­ges “eigent­lich” nichts Schlim­mes zuge­sto­ßen ist, und Kriegs­en­kel, die “eigent­lich” zufrie­den mit ihrem Leben sein müss­ten. Lesens­wert!

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Wei­ter­füh­ren­de Beiträge:

Schwar­ze Päd­ago­gik: “Erfun­den” haben die Natio­nal­so­zia­lis­ten die ‘Erzie­hung mit har­ter Hand’ nicht, aber wie so vie­les ande­re auf die Spit­ze getrie­ben. Johan­na Haa­r­ers Kin­der­drill-Bibel war in der Nazi-Zeit ein Best­sel­ler und galt als d e r Leit­fa­den über Kin­der­er­zie­hung. Über die NS-Päd­ago­gik und Johan­na Haa­r­ers Mach­werk.
Zwi­schen Drill und Miss­hand­lung: Johan­na Haa­r­ers “Die deut­sche Mut­ter und ihr ers­tes Kind

Alte Foto­gra­fien und Doku­men­te fin­den sich oft an den unmög­lichs­ten Stel­len. Oft sind sie dort, wo man sie nie­mals ver­mu­tet hät­te. Ein klei­ner Tipp für alle, die immer mal wie­der zufäl­lig über schö­ne und beson­de­re Fund­stü­cke stol­pern: ein Ord­ner, ein paar Ein­steck­fo­li­en, Trenn­blät­ter und ein win­zi­ges Plätz­chen im Regal oder Bücher­schrank.
Was tun mit alten Fami­li­en­fo­tos und Dokumenten?

Der tota­le Krieg 1943: Adolf Hit­ler war nie der begna­de­te Mili­tär­stra­te­ge, für den er sich sel­ber hielt. 1943 ist er zudem gesund­heit­lich ange­schla­gen, hat Anfäl­le, wird zuneh­mend para­no­id und nimmt Amphet­ami­ne und alle mög­li­chen ande­ren Medi­ka­men­ten­cock­tails, die sei­ne Gesund­heit stär­ken sol­len.
In die­ser Ver­fas­sung befeh­ligt er sei­ne Armeen — und hofft auf eine Kriegs­wen­de zu sei­nen Guns­ten.
Hit­lers Krieg (5): Der tota­le Krieg 1943

Nach dem Kriegs­en­de 1945 ist Deutsch­land zwar ein armes und hung­ri­ges Land, ein unter­ent­wi­ckel­tes war es nie. Es sind aber nicht nur Fleiß und Lud­wig Erhard, die das deut­sche “Wirt­schafts­wun­der” ermög­li­chen, son­dern vor allem der kal­te Krieg, die Tat­sa­che, dass Deutsch­lands Kriegs­geg­ner die­ses Mal dazu­ge­lernt haben, — und nicht zuletzt 12 Mil­lio­nen Flücht­lin­ge.
1948: Das Mär­chen vom Wirtschaftswunder

Zeit­zeu­gen: Zeit­zeu­gen­be­rich­te und alles Wich­ti­ge für die eige­ne Bio­gra­fie­ar­beit von “A” wie Anfan­gen bis “Z” wie Zuschuss­ver­la­ge
Gene­ra­tio­nen­ge­spräch Zeitzeugen

Bild­nach­wei­se:

Kin­der wäh­rend eines Luft­an­griffs (Sowje­ti­sche Kin­der wäh­rend eines deut­schen Luft­an­griffs in den ers­ten Tagen des Krie­ges. Weiß­russ­land), 24 June 1941, Source RIA Novos­ti archi­ve, image #137811, https://​visu​al​ri​an​.ru/​r​u​/​s​i​t​e​/​g​a​l​l​e​r​y​/​#​1​3​7​811 6x7 film / 6х7 негатив, Aut­hor Yaros­lavts­ev / Ярославцев, Commons:RIA Novos­ti
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Ruhr­ge­biet, Luft­schutz­stol­len wäh­rend Flie­ger­alarm, Zen­tral­bild II. Welt­krieg 1939 — 45 Luft­schutz­stol­len im Ruhr­ge­biet, um 1943. Wäh­rend eines Flie­ger­alarms, Ruhr­ge­biet, 1943, Pho­to­grapher Unknown, Bun­des­ar­chiv, Bild 183-R71086 / CC-BY-SA 3.0
Auf­nah­me des Angriffs auf Pforz­heim aus einem der Bom­ber, Roy­al Air Force offi­ci­al pho­to­grapher — https://media.iwm.org.uk/iwm/mediaLib//9/media-9684/large.jpg This is pho­to­graph C 5083 from the coll­ec­tions of the Impe­ri­al War Museums

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