Ende 1932 scheint Hitlers Aufstieg zur Macht endgültig gestoppt zu sein.: Die NSDAP ist pleite, zerstritten und hat am 6. November 1932 – das erste Mal seit zwei Jahren – Wählerstimmen verloren.
Und trotzdem ernennt der Präsident der Weimarer Republik, Paul von Hindenburg, Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler.
Wie konnte das passieren?
Wenn die Partei zerfällt, mache ich in drei Minuten Schluss …
Immer häufiger werden nach der “Novemberwahlschlappe 1932″ in der NSDAP kritische Stimmen laut, dass Hitler mit seinem alleinigen Führungsanspruch der Partei schadet.
Besonders sein Partei-Vize, der mächtige zweite Mann in der Partei, Gregor Strasser, verübelt es dem „Führer” unter vielen anderen Kritikpunkten auch, dass er im Sommer nicht einmal Vizekanzler geworden ist.
Der Bürogeneral und Strippenzieher hinter den Kulissen Kurt von Schleicher gießt derweil eifrig Öl ins Feuer, denn nachdem sich Hitler Gesprächen mit ihm und Hindenburg verweigert, spricht er eben mit Strasser über eine mögliche Regierungsbildung oder Tolerierung der Regierung Papen.
Daraufhin kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Hitler und Strasser, die auch noch öffentlich bekannt werden.
- Für einen kurzen Augenblick sieht es so aus, als ob die „Hitler-Partei” auseinanderbrechen könnte, weil der „Strasser-Flügel” sich möglicherweise abspaltet.
Zerlegt sich die NSDAP jetzt selbst, wie viele hoffen?
Für den „Führer” ein denkbares Szenario; er ist völlig außer sich.
„Wenn die Partei zerfällt, mache ich in drei Minuten Schluss”, schreit er am 8. Dezember den entsetzten Goebbels an. Viele Deutsche atmen auf und hoffen auf ein friedliches Weihnachtsfest.
Aber noch ist der Kampf um die Weimarer Republik nicht entschieden …
Nach der Novemberwahlschlappe der NSDAP: Vorsichtiger Optimismus
Zum Jahreswechsel sehen viele Deutsche vorsichtig-optimistisch dem neuen Jahr 1933 entgegen. Zumindest die Mehrheit, die Hitler nicht an der Macht sehen will. Das Jahr 1932 endet viel besser, als es am Anfang zu befürchten war.
Die Stimmung in der Wirtschaft hellt sich gegen Jahresende spürbar auf und der Versailler Vertrag — „Schandvertrag”, wie ihn viele zu nennen pflegen — ist in weiten Teilen bald nur noch Geschichte.
Ein schwerer Schlag für alle Rechtspopulisten im Land, denn ihnen geht damit eines ihrer Lieblingskampfthemen verloren, mit dem man besonders gut mit dem Finger auf das angebliche Staatsversagen und die „deutschenfeindliche Republik” zeigen kann.
- Fast noch beruhigender ist allerdings die Wahlschlappe, die die NSDAP bei der Novemberwahl 1932 eingefahren hat, 2 Millionen Wählerstimmen hat die „Hitler-Partei” verloren.
Zwar ist sie nach wie vor im Reichstag die stärkste Fraktion, aber der neue Reichskanzler Kurt von Schleicher ist sich sicher, dass er die Rechts- und Linksextremen, die nichts lieber wollen, als diese Republik zu zerschlagen, zu zähmen vermag.
Vielleicht sogar zu spalten. Bei Hitler zumindest sollen die Nerven blank liegen, wie man hört.
Alles Gute für 1933!
Reichskanzler Schleicher verhandelt mit Gewerkschaftsbossen ebenso wie mit allen wichtigen Parteifunktionären von der SPD übers Zentrum bis zu den Deutschnationalen.
Er spricht auch mit Hitler, der will aber nicht. Schleicher bricht die Verhandlung mit ihm ab.
Stattdessen spricht er mehrmals mit Hitlers NSDAP-Vize Gregor Strasser, dem er eine Regierungsbeteiligung als Minister vorschlägt, um seine Querfront den Unzufriedenen in der Partei schmackhaft zu machen. Und die NSDAP möglicherweise sogar zu spalten. Nur mit der KPD spricht Schleicher nicht.
- Der Aktionsplan zur Rettung der Republik wird misstrauisch beäugt.
Viele wollen erstmal abwarten, wer noch bei dieser Querfront mitmacht. Bei manchen kommt Schleichers Konzept auch überhaupt nicht gut an, beispielsweise bei Schleichers Duzfreund und Vorgänger im Kanzleramt, Franz von Papen.
Der bekommt zum Jahreswechsel erstmal ein Telegramm:
„Schleicher schickt ein Neujahrestelegramm nach Wallerfangen an Franz von Papen. ‚Alles Gute für 33 und herzlichen Dank dem Bannerträger in entscheidenden Kämpfen des alten Jahres. Seinem lieben Fränzchen und seiner Familie viel Liebes. Schleicher.‘ Schickt man einem Rivalen, dessen Rache man fürchten muss, ein solches Telegramm? …“
Aus: Rüdiger Barth, Hauke Friedrichs, Die Totengräber: Der letzte Winter der Weimarer Republik*
Ob Papen Schleichers Neujahrsgrüße als freundliche Geste aufnimmt? Oder doch als höhnisches Nachtreten, nachdem Schleicher ihn hinterrücks ausmanövriert hat?
Rückblick: Kampf ums Kanzleramt
Es ist nicht bekannt, wie Franz „Fränzchen“ von Papen auf Schleichers Neujahrsglückwünsche reagiert hat, aber nach allem, was man weiß, wird er das Telegramm zuhause in Wallerfangen nicht auf den Kaminsims gestellt haben.
Denn natürlich hatte er fest damit gerechnet, dass er nach der Novemberwahl Reichskanzler bleiben würde und auch schon Pläne geschmiedet.
Aber Schleicher hatte ihn nicht nur als Kanzler ausgebootet, sondern auch öffentlich bloßgestellt und düpiert.
Für ihn, Franz Joseph Hermann Michael Maria von Papen, Erbsälzer zu Werl und Neuwerk, Sprössling eines alten westfälischen Adelsgeschlechts, eine tiefe Kränkung, die er so schnell nicht vergisst.
- Papens Kanzlerpläne nach der Novemberwahl sahen vor, dass er wie bereits im September 1932 das zu erwartende gemeinsame Misstrauensvotum von NSDAP und KPD gegen ihn als Kanzler durch eine von Hindenburg unterschriebene Auflöse-Order elegant umschiffen und das gerade eben gewählte Parlament einfach wieder auflösen und nach Hause schicken würde.
Das ließe sich problemlos wiederholen. Dieses Mal aber, so Papens Plan, ohne einen Termin für die nächste Reichstagswahl festzusetzen.
Das würde genau genommen einem Staatsstreich gleichkommen, denn die Weimarer Verfassung sieht vor, dass Neuwahlen innerhalb von 8 Wochen nach einer Reichstagsauflösung stattfinden müssen.
Aber wen kümmert’s?
Seit 1930 endete jede Reichstagswahl mit dem Ergebnis, dass das Land durch den Wählerzulauf von NSDAP und KPD noch unregierbarer geworden ist. Statt dem Parlament regiert letzten Endes derjenige, der Hindenburgs Vertrauen genießt und von ihm die Unterschriften unter die Notverordnungen bekommt.
- Hindenburgs Vertrauen hat er, das weiß Papen. Mehr braucht er nicht für seinen Machterhalt.
Die Stunde der Strippenzieher und Intriganten
Ausgerechnet Papen will die Weimarer Verfassung brechen und als Reichskanzler mit Hindenburgs Hilfe und de facto diktatorischen Befugnissen durchregieren?
Die wenigen, die von diesem Plan erfahren, sind entsetzt.
Denn Papen ist in allen politischen Lagern ungefähr so populär wie Magen-Darm mit Brechdurchfall. So zerrissen das Land auch ist: Niemand kann Papen leiden.
Er hat weder eine politische Hausmacht, nicht einmal in seiner eigenen Partei, noch kann er die Bürgerinnen und Bürger von sich überzeugen.
Großes Zutrauen in seine politischen Fähigkeiten hat niemand. Mit Ausnahme Hindenburgs, was wichtig ist. In den Hinterzimmern des Reichskanzleramtes entbrennt der Kampf um die Macht.
Es ist die große Stunde der Strippenzieher der Weimarer Republik, vor allem die von Schleicher.
Denn es ist vor allem er, der seinen alten Kameraden „Fränzchen“ im Juni 1932 persönlich ins Kanzleramt gebracht hat und in Papens Kabinett als parteiloser Reichswehrminister fungiert, der jetzt kräftig an seinem Stuhl sägt, um zu verhindern, dass er noch einmal Kanzler wird.
Schleicher befürchtet sogar einen Volksaufstand, sollte Papen erneut Reichskanzler werden.
Deutschland im Winter 1932: Bedingt abwehrbereit
Nachdem KPD und NSDAP gemeinsam den Streik der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) vom 3. bis 7. November 1932 organisiert und dadurch den gesamten öffentlichen Nahverkehr in Berlin zum Stillstand gebracht haben, gibt Schleicher in seiner Eigenschaft als Reichswehrminister ein „Planspiel“ in Auftrag.
Seine Militärstrategen sollen herausfinden, ob die Reichswehr einem gemeinsamen republikweiten Generalstreik von KPD und NSDAP und einen gleichzeitig stattfindenden Angriff Polens standhalten könnten. Ein ziemlich schräges Szenario – aber man weiß ja nie.
Das Ergebnis: Könnte sie nicht.
Die Republik wäre bei einer gleichzeitigen Bedrohung von innen durch Kommunisten und Nationalsozialisten und von außen, beispielsweise durch Polen, nur bedingt abwehrbereit.
Das ernüchternde Ergebnis seines „Planspiels“ lässt Schleicher dem geschäftsführenden Kabinett vortragen, das wie erwartet fassungslos ist.
- Mit unangenehmen Folgen für Papens Kanzler-Pläne.
Als der am 2. Dezember 1932 seinen geschäftsführenden Ministern freudig eröffnet, dass er von Hindenburg nun endlich auch offiziell den Auftrag erhalten habe, erneut als Kanzler eine Regierung zu bilden, verweigern ihm die Minister seines Schattenkabinetts die Gefolgschaft.
„Niemand reagiert. Schweigen. Da spricht Konstantin von Neurath, der Älteste im Raum, graumelierte Haare, grauer, kurzer Schnurrbart, Schmiss auf der Wange. Er redet langsam, als koste es ihn Überwindung, sagt, dass er ein zweites Kabinett Papen sehr skeptisch sehe, ja dass er sogar vor der erneuten Betrauung des aktuellen Kanzlers warnen müsse. Wieder senkt sich Schweigen über den Raum, bis der Finanzminister Schwerin von Krosigk die Stimme erhebt. Er bittet Papen, den Reichspräsidenten darüber zu informieren, dass die meisten, wenn nicht alle Kabinettsmitglieder, die Meinung Neuraths teilten …“
Aus: Rüdiger Barth, Hauke Friedrichs, Die Totengräber: Der letzte Winter der Weimarer Republik*
Nach diesem Debakel bleibt Hindenburg nichts anderes übrig, als seinen Wunschkandidat Papen als Kanzler gleich wieder zu entlassen.
Später lässt er ihm ein Foto von sich mit seiner Unterschrift zustellen und einer persönlichen Widmung: „Ich hatt‘ einen Kameraden!“
- Am 3. Dezember ernennt er Schleicher zum neuen Reichskanzler, sein „letztes Pferd im Stall“, wie er sagt.
Jenen Schleicher, das hat der 85-jährige Hindenburg sehr wohl verstanden, der Franz von Papen soeben aus dem Kanzleramt intrigiert hat.
Reichskanzler Kurt von Schleicher
Nun macht es also Schleicher doch selbst. Er ist der 12. Reichskanzler in der knapp 14-jährigen Geschichte der Weimarer Republik.
Unermüdlich macht er sich an die Arbeit und zunächst läuft es gut für ihn: Am späten Abend des 4. Dezember ist klar, dass die NSDAP auch bei der Thüringer Kommunalwahl deutlich an Stimmen verloren hat und den Negativ-Trend der Reichstagswahl trotz des massiven Einsatzes sämtlicher NSDAP-Größen im Wahlkampf nicht stoppen konnte.
- Dann macht sich der neue Reichskanzler daran, das zarte Pflänzchen Hoffnung auf bessere Zeiten zu stabilisieren. Wirtschaftlich mit staatlich finanzierten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wie zum Beispiel dem Autobahnbau; die Pläne dafür liegen schon fertig in der Schublade.
Den Sumpf aus Massenarbeitslosigkeit, bitterer Armut und Hoffnungslosigkeit, die vor allem der NSDAP und der KPD in den vergangenen Jahren regen Zulauf beschert haben, austrocknen. Das ist der Plan.
- Politisch will Schleicher eine Querfront schmieden, eine Achse der Willigen quer durch alle politischen Lager für eine Art Burgfrieden, um die Zeit zu überbrücken, bis die Wirtschaft sich erholt hat.
Am 6. Dezember tritt der neugewählte Reichstag das erste Mal zusammen.
- Ein Misstrauensantrag der KPD gegen die neue Regierung Schleicher scheitert, weil die NSDAP den Antrag nicht unterstützt.
Nicht unterstützen kann.
Hitler und seine NSDAP können sich eine erneute Auflösung des Reichstags, die einem erfolgreichen Misstrauensvotum so sicher folgen würde wie das Amen in der Kirche, schlichtweg nicht mehr leisten. Die finanziellen Mittel für noch einen Wahlkampf fehlen.
Außerdem ist sich niemand in der Führungsriege der NSDAP sicher, ob eine erneute Wahl nicht doch wieder in einem Debakel für Hitler enden würde.
- Seit der Novemberwahl 1932 haben weder der „Führer“ noch seine Partei einen Lauf. Wer weiß schon, ob die NSPAP bei der nächsten Wahl nicht noch mehr Stimmen verliert?
Nach zwei weiteren Sitzungstagen des neugewählten Reichstags, bei denen sogar Beschlüsse gefasst und Gesetze verabschiedet werden, vertagt sich das Parlament auf unbestimmte Zeit in die Weihnachtsferien. Der Ältestenrat und das Reichstagspräsidium sollen entscheiden, wann es im neuen Jahr weitergeht.
Weihnachtsfrieden für die Republik. Und für Schleicher.
„… Als von Schleicher begriff, dass Fränzchen, wie er seinen Freund von Papen nannte, es nicht schaffen würde, Hitler auf Dauer von der Macht fernzuhalten, beschloss er, aus der Deckung zu kommen und sich an die Spitze zu wagen. Er überzeugte Hindenburg, Papen fallenzulassen und es stattdessen mit ihm als Kanzler zu versuchen. Schleicher hatte sich inzwischen ausgedacht, eine ‚Querfront der verständigen Kräfte‘ — von gemäßigten Nationalsozialisten bis hin zu christlichen Gewerkschaften — zu bilden, um auf diese Weise Hitler in die zweite Reihe zu drängen. Das Projekt ist später oft belächelt worden, aber wer sich in Schleicher hineinversetzt, versteht die Logik. Er hatte schon die merkwürdigsten Gestalten zusammengebracht …“
Aus: Harald Jähner, Höhenrausch: Das kurze Leben zwischen den Kriegen*
„Es sitzt sich schlecht auf der Spitze der Bajonette!”
Da sich das Parlament im verlängerten Weihnachtsurlaub befindet, hält Schleicher seine Regierungserklärung als Rundfunkansprache. Er sehe sich als „überparteilicher Sachverwalter der Interessen aller Bevölkerungsschichten“, sagt er, und das hoffentlich nur für kurze Zeit.
Sein Ziel: Arbeit schaffen! Was er nicht will: eine Militärdiktatur errichten.
- „Es sitzt sich schlecht auf der Spitze der Bajonette, das heißt, man kann auf Dauer nicht ohne eine breite Volksstimmung hinter sich regieren“, sagt er in seiner Ansprache, in der er sich selbst als „sozialen General“ bezeichnet, was ihm viel Spott einbringt, zunehmend aber auch Wertschätzung.
Nur die Querfront, die ihn als Kanzler stützen soll, will Schleicher nicht so recht gelingen; man signalisiert Interesse, ohne sich festlegen zu wollen.
Vor allem misslingt ihm die beabsichtigte Spaltung der angeschlagenen NSDAP: Nach vielen Verhandlungen, heimlichen Treffen und lautstarken Auseinandersetzungen mit Hitler wirft Gregor Strasser hin, gibt alle Parteiämter ab und zieht sich ins Private zurück.
Brüning, Papen, Schleicher — die letzten Reichskanzler der Republik
In 14 Jahren hatte die Weimarer Republik 12 Reichskanzler.
Die letzten drei waren:
„Hungerkanzler“ Heinrich Brüning: 28. März 1930 bis 30. Mai 1932
Franz von Papen: 1. Juni 1932 bis 2. Dezember 1932
Kurt von Schleicher: 3. Dezember 1932 bis 28. Januar 1933
Gekränkter Stolz und Ränkespiele: Hitlers Aufstieg zur Macht
Aber nicht nur Schleicher beherrscht das konspirative Spiel über Bande, auch der düpierte Papen übt sich darin. Beim Jahresessen des erzkonservativen ‚Herrenklub‘ kurz vor Weihnachten 1932 fragt Bankier Kurt Freiherr von Schröder den geschassten Ex-Reichskanzler, ob er Interesse an einem geheimen Treffen mit Adolf Hitler habe.
Papen hat. Und so findet am 4. Januar 1933 in Schröders Kölner Villa ganz diskret das mehrstündige persönliche Gespräch zwischen Papen und Hitler statt.
Durch einen blöden Zufall bleibt das geheime Hitler-Papen-Treffen in Köln nicht geheim, sondern steht am nächsten Morgen in allen Zeitungen.
Schleicher nimmt die Nachricht gelassen: „Ich sag‘ ihm einfach: ‚Mein Fränzchen, du hast schon wieder einen Schnitzer begangen“, äußert er in einem informellen Gespräch gegenüber dem französischen Botschafter André François-Poncet.
Wenige Tage später kommt es dann zu einer langen Aussprache zwischen Schleicher und Papen.
Bei dem Treffen in Köln, so verkauft es Papen an Schleicher, sei es einzig und allein darum gegangen auszuloten, unter welchen Umständen Hitler bereit wäre, die Regierung Schleicher zu unterstützen.
- Nach dem Gespräch mit Schleicher spaziert Papen schnurstracks die paar Meter zu Hindenburgs Büro, zu dem er jederzeit und ohne Termin Zugang hat. Dem Reichspräsidenten erzählt Papen eine andere Geschichte: Der „Führer“ sei erstmals bereit, an einer Regierungskoalition mit konservativen Kräften teilzunehmen.
Hindenburg verhört sich
Und dann passiert das Unfassbare: Im Glauben, „sein“ Papen könne erneut Reichskanzler werden und Hitler wäre jetzt auf einmal mit dem Posten des Vizekanzlers zufrieden, gibt Hindenburg sein Einverständnis für weitere, selbstverständlich streng vertrauliche Gespräche mit Herrn Hitler.
Daraufhin folgen mehrere konspirative Treffen zwischen Papen und Hitler in der Berliner Villa des Sekthändlers Joachim von Ribbentrop, einem ehemaligen Kriegskameraden Papens, und dessen Frau Anneliese, einer geborenen Henkell.
Hitler redet in stundenlangen Monologen auf Papen ein, um ihn zu überzeugen, dass die neue Regierung nur mit ihm als Reichskanzler zustande kommen könne; Papen könne ja Vizekanzler werden.
Nach weiteren Zusammenkünften wird auch Oskar von Hindenburg hinzugezogen, der in der Verfassung nicht vorgesehene Sohn des Reichspräsidenten (Kurt Tucholsky), weil der die Aufgabe übernehmen soll, seinem Vater einen zukünftigen Kanzler Hitler an der Seite von Vizekanzler Papen schmackhaft zu machen.
Trotz aller Geheimnistuerei bleiben die Gespräche zwischen Papen und Hitler im Hause Ribbentrop nicht geheim, sondern landen in den Zeitungen. Schleicher muss hilflos mit ansehen, wie ihm seine Felle davonschwimmen.
Persönlich informiert wird er von seinem düpierten „Fränzchen“ nicht mehr, schließlich handelt der ja jetzt im höchsten präsidialen Auftrag.
Es wird eng für Kanzler Schleicher.
Ein Gerücht — und Schleichers Rücktritt
Obwohl Schleicher nach wie vor mit seinem Querfront-Konzept durch alle Lager hausieren geht, schwinden die Chancen, dass er auf diese Weise Unterstützer für seine Kanzlerschaft findet: Strasser ist kaltgestellt, die kritischen Stimmen innerhalb der NSDAP verstummen und alle anderen Partei- und Gewerkschaftsführer sind misstrauisch.
Mehrmals spricht Schleicher bei Hindenburg vor, denn ohne Querfront braucht er für die nächste Reichstagssitzung dringend eine von Hindenburg unterzeichnete Auflöse-Order.
- Denn so wie die Dinge stehen, werden KPD und NSDAP bei der nächsten Reichstagssitzung die Gelegenheit nutzen, um nun doch wieder ein gemeinsames Misstrauensvotum gegen die amtierende Regierung auf den Weg zu bringen.
Ohne Unterstützung durch eine Querfront und ohne Auflöseorder — das wäre die logische Folge — wäre das Kabinett Schleicher dann abgewählt.
Hindenburg zögert.
Er will es sich überlegen.
Schon wieder ein aufgelöster Reichstag in diesen unruhigen Zeiten.
Und jetzt will Schleicher auch nach der Auflösung des Reichstags die Verfassung brechen und den Termin für Neuwahlen hinauszögern. Das war doch Papens Plan!
- Bis in den Herbst 1933 soll der Reichstag nicht mehr tagen; in der Hoffnung, dass bis dahin Schleichers Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen greifen und weniger Wählerinnen und Wähler für die KPD oder die NSDAP stimmen.
Das verstimmt den alten Reichspräsidenten, der sich angesichts seiner 85 Jahre vor allem eins wünscht: Ruhe und Ordnung. Ein geordnetes Reich will er hinterlassen, nicht diesen Scherbenhaufen.
Dann tauchen in den Zeitungen auch noch Schlagzeilen auf, dass die Krise der Republik eine vom Reichspräsidenten gemachte Krise sei.
Das ist wenig hilfreich für Schleicher.
- Dazu kommt, dass Hindenburgs Sohn Oskar das Gerücht streut, Schleicher wolle den Reichspräsidenten aus Altersgründen in Ehren absetzen und sich selbst zum Reichspräsidenten machen. Anschließend wolle der Bürogeneral dann Hitler zum Reichskanzler ernennen, um das Volk zu beruhigen.
Es ist ein haltloses Gerücht; eins unter vielen in diesen Tagen. Aber eins, das Hindenburg ärgert.
Als der Ältestenrat den 31. Januar 1933 als neuen Termin für die Zusammenkunft des Reichstag bestätigt, versucht Schleicher ein allerletztes Mal, den Reichspräsidenten umzustimmen.
Am Samstag, dem 28. Januar 1933 ist er bei seiner letzten Audienz bei Hindenburg:
„Ich erbitte die Auflösungsorder, sagt Schleicher. ‘Nee’. sagt Hindenburg, ‘die kriegenese nich.’ Genau so sagt er das. So schnoddrig. Das Urteil über Kurt von Schleicher. …“
Aus: Rüdiger Barth, Hauke Friedrichs, Die Totengräber: Der letzte Winter der Weimarer Republik*
Daraufhin tritt Schleicher als Kanzler zurück.
Das Rücktrittsgesuch hat Hindenburgs Büroleiter Otto Meissner schon aufgesetzt; der Herr General möge als Kanzler doch bitte im Amt bleiben, bis sich das neue Kabinett formiert hat.
Freie Fahrt für Papen und Hitler: Hitlers Aufstieg zur Macht ist jetzt unabwendbar.
„…, dass ein Mensch von solchem Federgewicht einen kurzen Augenblick lang Weltgeschichte machen und entscheiden konnte.“
Historiker Golo Mann über Franz von Papen
Copyright: Agentur für Bildbiographien, www.bildbiographien.de, 2021, überarbeitet 2024
Lesen Sie im nächsten Beitrag: Februar 1933: Drei Kanzler hat die Weimarer Republik innerhalb von nur sechs Monaten verschlissen; niemand rechnet damit, dass sich das neue “Kabinett Hitler” lange an der Macht halten wird. Doch was dann im Februar 1933 im Zuge Hitlers “Machtergreifung” passiert, überrascht (fast) alle …
Machtergreifung. Februar 1933: In vier Wochen zur NS-Diktatur
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Der “Schwarze Freitag”: Vom Börsenkrach zur Weltwirtschaftskrise
Das Generationengespräch im Überblick: Biografien, Liebe, Opfer, Mord, Krieg und andere Geschichten der letzten 300 Jahre, die unsere Welt zu dem gemacht haben, die sie heute ist.
Das Generationengespräch: Geschichte(n) im Überblick
Linkempfehlung:
Bundesarchiv: Die Rundfunkansprache des Reichskanzlers Kurt von Schleicher vom 15. Dezember zum Nachlesen:
https://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919–1933/0p20/vsc/vsc1p/kap1_2/para2_25.html
Bildnachweise:
Bundesarchiv, Bild 183-H28422 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de,
Das Kabinett Hitler: die Nationalsozialisten Hitler, Göring und Frick (2. Reihe, 4. von links), „eingerahmt“ von konservativen Ministern, in der Alten Reichskanzlei, 30. Januar 1933
Es folgt die historische Originalbeschreibung, die das Bundesarchiv aus dokumentarischen Gründen übernommen hat. Diese kann allerdings fehlerhaft, tendenziös, überholt oder politisch extrem sein. Zentralbild Die deutschen Faschisten bilden nach der Machtergreifung am 30.1.1933 ihr erstes Kabinett unter Adolf Hitler. UBz: vlnr, sitzend: Hermann Göring, Reichskommissar für Luftfahrt und das preussische Innenministerium, Adolf Hitler, Reichskanzler, Franz von Papen, Vizekanzler stehend: Franz Seldte, Arbeitsminister, Dr. Dr. Günther Gereke, Lutz Graf Schwerin von Krosigk, Reichsfinanzminister, Wilhelm Frick, Reichsinnenminister, Werner von Blomberg, Reichswehrminister, Alfred Hugenberg, Wirtschafts- und Ernährungsminister 3633–33
Gregor Strasser (2. von links) im Kreis der Führungsgruppe der NSDAP bei einer Besprechung in Berchtesgaden im Sommer 1932 (Adolf Hitler, Gregor Strasser, Ernst Röhm and Hermann Göring during a gathering in Berchtesgaden in 1932)
Von Rudolf Vollmuth (+1943) — Berlin Document Centre, Gemeinfrei
Bundesarchiv Bild 183-S51620, Generalfeldmarschall Paul v. Hindenburg“ von Bundesarchiv, Bild 183-S51620 / CC BY-SA 3.0. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 de über Wikimedia Commons
Bundesarchiv, Bild 136-B0228 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 de über Wikimedia Commons.
Es folgt die historische Originalbeschreibung, die das Bundesarchiv aus dokumentarischen Gründen übernommen hat. Diese kann allerdings fehlerhaft, tendenziös, überholt oder politisch extrem sein. Kurt von Schleicher Reichsminister General Kurt von Schleicher (erschossen 1934 bei Röhm-Revolte) in Uniform, Porträt Abgebildete Personen: Schleicher, Kurt von: Reichskanzler, Reichswehrminister, General, 1934 ermordet, Deutschland (GND 118608037)
Von Bundesarchiv, Bild 183‑1988-0113–500 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 de über Wikimedia Commons
Es folgt die historische Originalbeschreibung, die das Bundesarchiv aus dokumentarischen Gründen übernommen hat. Diese kann allerdings fehlerhaft, tendenziös, überholt oder politisch extrem sein. Geburtstag des Vizekanzlers. Der Stellvertreter des Reichskanzlers, Vizekanzler Franz von Papen, wird am 29.10. 54 Jahre alt. Herr von Papen, der sich um die Einigung des nationalen Deutschland ein historisches Verdienst erworben hat, ist gebürtiger Westfale und war zunächst aktiver Offizier, 1913 Hauptmann im Grossen Generalstab, 1914–16 Militär-Attachè in Washington und in Mexiko. In den beiden letzten Kriegsjahren nahm Herr von Papen am Feldzug teil und war zuletzt Oberstleutnant und Chef des Stabes der 4. Osmanischen Armee. Als Mitglied des Zentrums hat er dem Preussischen Landtag von 1920 bis 1928 und von 1930 — 1932 angehört. Am 1. Juni 1932 übernahm Herr von Papen auf Wunsch des Reichspräsidenten das Reichskanzleramt, das er bis zum 2. Dezember innehatte. Seit dem 30. Januar 33 , dem Tag der Amtsübernahme der Regierung Hitler, ist Herr von Papen Stellvertreter des Reichskanzlers. 37161–33
Bundesarchiv, Bild 102–09560 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 de über Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5480202Oberstleutnant von Hindenburg, der Sohn des Reichspräsidenten verunglückt ! Oberstleutnant von Hindenburg verunglückte beim Reiten im Tiergarten. Er hat einige Rippenbrüche davongetragen, sodass er mehrere Wochen das Bett hüten muss.