Konrad Henlein, Sudetendeutscher mit tschechischem Großvater, war Turnlehrer und wollte nach eigenem Bekunden auch nie etwas anderes sein. Er wurde zum Aushängeschild nationalsozialistischer Sudetendeutscher, die in den 1930er Jahre kräftig am Weltfrieden zündelten und die Sudetenkrise 1938 anzettelten.
War Henlein nur Hitlers Marionette und Brandstifter — oder auch Biedermann mit einem eigentlich ernsthaften Anliegen?
Eine Verbindung aus Fetzen und Flicken
Am Ende war es schnell vorbei mit der einstigen Pracht und Herrlichkeit.
Rund 640 Jahre wurde der Balkan durch das Riesenreich der Habsburger beherrscht, dann löste sich die k.u.k Doppelmonarchie im Herbst 1918 über Nacht in Nichts auf.
Aus der Konkursmasse Österreich-Ungarns, dem Vielvölkerstaat, der von vielen auch als ‚Völkerkerker’ bezeichnet wurde, entstanden neue Nationalstaaten; von denen die meisten vorher noch nie existiert hatten. Zu den Nationen, die nach dem Endes des Ersten Weltkrieges neu “erfunden” wurden, gehörte auch die Republik Tschechoslowakei.
Die treibende Kraft hinter der bis 1918 völlig unbekannten Nation waren der tschechische Philosophie-Professor, Politiker und spätere Staatspräsident Tomáš Garrigue Masaryk und sein engster Mitarbeiter Edvard Beneš.
Masaryk und Beneš waren bei Kriegsausbruch im August 1914 emigriert und lebten abwechselnd in Frankreich und Großbritannien im Exil.
Mit viel Zähigkeit und diplomatischem Geschick erreichen sie schließlich, dass die bei den Kriegsgegnern Österreich-Ungarns eigentlich unbedeutende ‚tschecho-slowakische Frage’ auf die Tagesordnung kommt und nach Kriegsende gelöst werden soll.
Untermauert wird ihr Plan mit Hilfe einer tschechoslowakische Exilarmee (Tschechoslowakische Legion), die auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges gegen Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich kämpft.

Es ist eine Geburt mit großen Schönheitsfehlern.
Die Slowaken, die nach dem Willen Masaryks und Beneš unbedingt ein Teil der neuzugründenden Republik sein sollten, hatten sich lange geziert und ihre Freude, ein Teil der Tschechoslowakei sein zu sollen, hält sich in Grenzen.
Slowaken sprechen eine andere Sprache, haben andere Wurzeln und Traditionen und fühlten sich gegenüber den modernen und aufgeschlossenen Tschechen als Hinterwäldler — als kleine, hässliche Brüder. Ein Gefühl, das Jahrzehnte überdauern wird und später maßgeblich am Ende der Republik beteiligt ist.
“… Die Tschechoslowakei ist eine Verbindung von Fetzen und Flicken, für die kein britischer Soldat sterben soll.”
Neville Chamberlain, britischer Premierminister 1937 — 1940
Aber man brauchte sie zur Staatsgründung, denn es gab auf dem Territorium, auf dem die Tschechoslowakei entstehen sollte, zu viele Deutschstämmige und zu wenige Tschechen.
Für die junge Republik muss eine genügend große Bevölkerungszahl geschaffen werden, um drei Millionen deutschsprachige Bürger als Minderheit deklarieren zu können.
Das, was als neue junge Nation entsteht, ist wie das untergegangene Reich der Habsburger ein Vielvölkerstaat mit großen Minderheiten und kleinen Mehrheiten, die sich gegenseitig nicht besonders mögen.

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
Die Würfel sind längst gefallen, als im Oktober 1918 die deutschsprachige Bevölkerung in Böhmen und Mähren aufwacht und sich als Bürger und gleichzeitig Minderheit der neu gegründeten Republik Tschechoslowakei wiederfindet.
Auch die Deutschstämmigen pochen auf das Maß aller Dinge jener Zeit — das Versprechen des amerikanischen Präsidenten Wilson über das Selbstbestimmungsrecht der Völker — und möchten sich der gerade entstehenden Republik Deutschösterreich anschließen.
Aber es ist zu spät.
Bei den Friedensverhandlungen in Versailles und den anderen “Vorortverhandlungen” sitzen die Tschechoslowaken mit den Siegern am Tisch, Kriegsverlierer wie Österreich und Deutschland finden kein Gehör und müssen draußen bleiben.
Als während der Verhandlungen immer deutlicher wird, dass die Chancen auf ein vereinigtes Deutsch-Österreich ungefähr genauso groß sind wie Kolatschen ohne Mehl, werden pro-österreichischen Demonstrationen organisiert. Das überforderte und nervöse tschechische Militär schießt in die wütende Menge. Es gibt mehrere Tote — es sind die ersten deutschsprachigen Märtyrer.
Ein weiterer Geburtsfehler der jungen Nation.
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Plötzlich Minderheit
Zwar garantieren die neuen Herrscher in Prag ihren zwangsrekrutierten deutschsprachigen Neubürgern umfassende Minderheitenrechte, in der Realität handhaben sie aber vieles wie ihre Vorgänger, nur mit umgekehrten Vorzeichen, manchmal sogar noch härter.
Hatte das alte Regime in Wien seinen Untertanen unterschiedlichster Nationalitäten bis 1918 noch kleinere Zugeständnisse gemacht, um sie friedlich zu stimmen (oder es zumindest versucht), gab es unter der neuen Regierung kein Pardon mehr.
Die tschechoslowakische Regierung in Prag verlangt beispielsweise von ihren deutschsprachigen Staatsbediensteten perfektes Tschechisch — und zwar von allen, vom einfacheb Briefträger bis zum Hochschulprofessor.
Die Sprachprüfung war schwer und wird von den Deutschen gefürchtet.
Lateinlehrer müssen beispielsweise Goethes ‚Faust’ auf Tschechisch rezitieren können, um zu bestehen. Ein großer Teil der wackeren deutschsprachigen Beamten und Behördenvertretern scheitert und verliert dadurch nicht nur die alte Heimat, sondern auch Broterwerb und Posten.
Man fühlt sich nicht nur wirtschaftlich abgehängt, sondern auch deangsaliert und unnötig gepiesackt — und als Fremde im eigenen Land, in dem viele deutschsprachige Familien schon seit Generationen leben.
Die zweite Schweiz Europas
Deutschböhmen und Deutschmähren sind die Filetstückchen aus der Konkursmasse der k.u.k. Doppelmonarchie und für die junge Republik Tschechoslowakei ein unermesslich wertvoller Gewinn.
Seit der Zeit der Habsburger Monarchie liefern die hochindustrialisierten Provinzen mit ihren gut ausgebildeten Arbeitskräften rund zwei Drittel aller Industrieprodukte.
Nach 1918 ermöglichen sie der tschechoslowakischen Wirtschaft, der es nach dem Krieg ähnlich schlecht wie der im besiegten Deutschland oder Österreich geht, herausragend gute Startbedingungen.
Ohne Reparationsforderungen, mit einer leistungsfähigen Industrie — vor allem in den dazugewonnenen deutschsprachigen Gebieten — , gut ausgebildeten Facharbeitern, aber auch einer sehr geschickten Wirtschaftspolitik gelingt es dem jungen Staat, innerhalb kurzer Zeit sein Wirtschaftsleben anzukurbeln.
Die Tschechoslowakei entwickelt sich schnell zu einer der stärksten Volkswirtschaften Europas, sie gilt bald als „zweite Schweiz Europas“.
Der wachsende Wohlstand und eine für diese Zeit bemerkenswerte Sozialgesetzgebung mit Einführung des Acht-Stunden-Tages, umfassenden Sozialversicherungen und einem Programm für sozialen Wohnungsbau bilden den Kitt für das neue Zusammenleben von Tschechen, Deutschen und Slowaken.
Die gute ökonomische Entwicklung beruhigt die Gemüter – auch wenn der Groll der Minderheiten bleibt.
Die Wektwirtschaftskrise
Verspätet, aber mit voller Wucht trifft die Weltwirtschaftskrise ab 1929 auch die Tschechoslowakei und sorgt dafür, dass — wie in vielen anderen Ländern auch — das Pulverfass aus lange kaum verdeckten Missmut explodiert.
Die Export-Produkte, die die Wirtschaft bislang stark gemacht haben – veredelter Stahl, Autos, Flugzeuge und hochentwickelte Waffen — kann niemand mehr bezahlen, Absatz und Produktion sinken rapide.
Im März 1933 erreicht die Krise ihren Höhepunkt.
Wie überall auf der Welt stehen immer mehr Menschen am Rande des existenziellen Abgrundes. Noch schlimmer als die wirtschaftliche Not, sind die Spannungen zwischen den Nationalitäten, die jetzt wieder aufbrechen.
Der soziale Kitt zerbröselt.
Vor allem die Deutschen, immerhin mit 3 Millionen Menschen im Vergleich zu 7 Millionen Tschechen und 2 Millionen Slowaken eine sehr große Minderheit, fühlen sich benachteiligt.
Die Krise trifft die sudetendeutschen Gebiete wesentlich härter als den Rest der Republik. Besonders die Leicht- und Konsumgüterindustrie im Sudetenland leidet stärker unter mangelndem Absatz als die Schwer- und Nahrungsmittelindustrie im tschechischen Landesinneren.
Das Egerland lebt beispielsweise vor allem von seiner Porzellanindustrie. Aber wer kauft schon Porzellan, wenn das Geld kaum fürs tägliche Brot reicht?
Konrad Henlein
Mehrere Koalitionsregierungen in Prag bemühen sich, die Folgen des Wirtschaftseinbruchs durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Staatsaufträgen und Agrarzölle zu mildern, aber die Zahl der Arbeitslosen steigt trotzdem rasant an, besonders bei den Sudetendeutschen.
Im März 1933 ist jeder fünfte von ihnen arbeitslos, wobei die Arbeitslosenquote der Deutschen in der Tschechoslowakei weit über dem Landesdurchschnitt liegt. Die Not ist so groß, dass Kinder und Alte verhungern.
Die deutschsprachige Minderheit beginnt, aufzubegehren: gegen Hunger, gegen die hohe Arbeitslosigkeit, gegen Tschechisch als einzige offizielle Amtssprache.
Sie fühlen sich ungerecht behandelt, und zum Teil ist das wohl auch so.
Zu dieser Zeit betritt Konrad Henlein die Bühne.

Er ist ein ehemaliger Bankangestellter, der 1925 das Turnen zu seinem Beruf macht, eine Lehrerstelle beim Turnverein in Asch übernimmt und — nach eigenem Bekunden — nie etwas anderes als Turnlehrer sein wollte.
Henlein gilt als redliche und gewinnende Persönlichkeit, die leicht zu beeinflussen ist, und wird trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – im Jahr 1931 zum Führer des Sudetendeutschen Turnverbandes in der ČSR gewählt.
Wie so oft in jener Zeit gehen auch beim sudetendeutschen Turnverband Sport und Politik Hand in Hand, und Henlein beginnt, tief enttäuscht von den geringen bisherigen Erfolgen (eigentlich: Misserfolgen) sudetendeutscher Parteien in Prag, seine Turnerbewegung zur politischen Kraft auszubauen.
In Prag beobachtet man sowohl Hitlers Aufstieg zur Macht im benachbarten Deutschland als auch das Treiben der heimischen deutschsprachigen Minderheit mit wachsender Sorge und verbietet schließlich zwei rechtsradikale sudetendeutsche Parteien.
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Wirtschaftlich sah es für das Nazi-Regime nach 1933
weit weniger rosig aus als häufig dargestellt. Der Mythos Autobahnbau, aber auch Röhm-Putsch, Volksgemeinschaft und vieles mehr in einem sehr gut recherchiertern und ausführlichen Heft spannend und sehr informativ. Ein lesenswerter Blick hinter die Kulissen der ersten 1000 Tage des Nazi-Regimes.
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Daraufhin sieht Henlein seine Chance gekommen und gründet die „Sudetendeutsche Heimatfront” als neues rechtes Sammelbecken für alle Wütenden und Frustrierten.
Nur eine Einheitsfront aller nicht-sozialistischer Parteien, so lautet sein Credo, könne eine gerechtere Minderheitenpolitik in der Tschechoslowakei vorantreiben.
Zunächst will Henlein vor allem eines: reden.
Die „Heimatfront“, später in SdP – Sudetendeutsche Partei – umbenannt, feiert einen Wahlsieg nach dem anderen und stellt schließlich die stärkste Fraktion im Prager Parlament.
Henlein und viele seiner Anhänger hoffen, dass sich die Wahlerfolge in der Minderheitenpolitik der tschechoslowakischen Regierung bemerkbar machen.

Aber es passiert — nichts.
Staatsoberhaupt der Tschechoslowakei ist mittlerweile Edvard Beneš, Mitbegründer der Republik, Dauer-Außenminister und nach Masaryks altersbedingtem Rückzug aus der Politik Staatspräsident.
Beneš schaltet auf stur und lehnt jede Verhandlung mit dem rechtslastigen, aber zunächst nicht nationalsozialistisch gesinnten Henlein und seiner Partei ab.
Mit Zuckerbrot und Peitsche Heim ins Reich
In Berlin ist man mittlerweile ebenfalls auf den ambitionierten Sportlehrer Henlein aufmerksam geworden, schließlich steht die hochentwickelte Tschechoslowakei mit ihrer modernen Automobil- und Waffenindustrie schon lange ganz oben auf Hitlers Agenda und spielt in seinen Allmachtsphantasien eine tragende Rolle.
Außerdem ist klar, dass die hochgerüstete und moderne Tschechoslowakei Hitlers Kriegsplänen im Osten im Weg ist und deswegen weg muss.
Ein Überfall auf die mit Frankreich verbündete Republik erscheint riskant.
Man weiß nicht, wie die Franzosen reagieren. Zudem weiß Hitler nicht, wie die Führung der Wehrmacht reagieren wird, denn die ist bei weitem (noch) nicht bereit, für den “Führer” in einen neuen Krieg zu ziehen.
Henlein und die von ihm organisierten wütenden Sudetendeutschen kommen daher gerade recht, um Hitlers tschechoslowakisches Dilemma zu lösen.
Er wird nach Berlin zitiert und dort mit Hitlers üblicher Strategie aus „Zuckerbrot und Peitsche” gedrängt, seine ‚Henlein-Partei’ zur „Fünften Kolonne” des Reichs auszubauen, straff organisiert und zu allem bereit.
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Ab 1937 brodelt es in den deutschsprachigen Gebieten der Tschechoslowakei. Nach wie vor sind besonders viele Sudetendeutsche ohne Arbeit und fühlen sich von der Regierung in Prag alleingelassen, zurückgesetzt, benachteiligt, bestenfalls gleichgültig behandelt.
Viele blicken mittlerweile sehnsüchtig auf den vermeintlichen Wohlstand und die wirtschaftlichen Erfolge im Dritten Reich, das als einziges Land Europas die Folgen der Weltwirtschaftskrise überwunden zu haben scheint.
Immer mehr Menschen sympathisieren mit der nach außen so glanzvoll und glücklich wirkenden benachbarten „Volksgemeinschaft“ und ihrem „Führer“ Adolf Hitler.
Im Deutschen Reich scheint es Arbeit und Brot für alle reichlich zu geben — das lässt sie die eigene Misere noch bewusster werden.
Die Ersten wollen „Heim ins Reich“.
Und im Gegensatz zur eigenen Regierung in Prag vermittelt „das Reich“ ganz offenkundig das Gefühl, sie auch haben zu wollen.

Das Karlsbader Programm
In bewährter Manier wird Stimmung gemacht.
SdP ‑Drückerkolonnen ziehen in sudetendeutschen Städten und Dörfern von Tür zu Tür und “werben” neue Mitglieder — offensiv und mit fragwürdigen Methoden: Deutschsprachige Gastwirte und Ladenbesitzer, die eine Mitgliedschaft verweigern, werden beispielsweise öffentlich angeprangert und sollen boykottiert werden.
Viele Sudetendeutsche halten sich an solche Boykottaufforderungen, denn es gilt: Entweder, Du bist für uns, oder Du bist ruiniert.
Die Lage wird durch organisierte Kundgebungen und Aufmärsche weiter angeheizt, SdP-Schlägertrupps liefern sich erste Straßenschlachten mit tschechischen Polizisten.
Die Lage eskaliert endgültig nach dem Anschluss Österreichs im März 1938, der von vielen Sudetendeutschen als Vorzeichen ihrer eigenen „Heim ins Reich“-Bewegung gesehen wird.
Im April 1938 eröffnet Konrad Henlein schließlich mit dem Karlsbader Programm den Frontalangriff auf die tschechoslowakische Regierung, streng nach Hitlers Motto, immer so viel zu fordern, dass man nicht zufrieden gestellt werden kann.
Das Münchner Abkommen
Hitlers Strategie, die Tschechoslowakei mit Hilfe der Sudetendeutschen zu zerschlagen, ist für alle, die genau hinsehen, sehr durchschaubar.
Auch Staatspräsident Beneš ist sich der Bedrohung bewusst und versucht zu retten, was noch zu retten ist. Mit harten Bandagen: Er verhängt in den sudetendeutschen Gebieten das Standrecht, mobilisiert seine Armee und hofft auf seinen Bündnispartner Frankreich.
Aber es nützt nichts.
Wie bereits im spanischen Bürgerkrieg 1936 ist Frankreich nicht bereit, mit Hitler eine offene Konfrontation zu wagen, Großbritannien auch nicht.
Stattdessen wird im September 1938 im Münchner Abkommen ohne Beteiligung der Tschechoslowaken die Abtretung des Sudetenlands an das Deutsche Reich beschlossen, um den Weltfrieden zu retten.
Die meisten Deutschen atmen auf — es wird keinen Krieg geben.
Glauben sie.
Am 1. Oktober 1938 ziehen sich tschechoslowakische Grenzposten aus den sudetendeutschen Gebieten zurück. Die ersten Verbände der deutschen Wehrmacht tauchen hinter der ehemaligen deutsch-tschechoslowakischen Grenze auf. Die sudetendeutsche Bevölkerung jubelt.
(Zumindest der größte Teil — wer sich zu den sudetendeutschen Sozialdemokraten, Kommunisten oder Juden zählt, tat gut daran, jetzt schleunigst zu verschwinden.)
Dies sei nun die letzte Forderung, die er an die Welt zu stellen habe, verkündet Hitler kurz nach der Besetzung.
Es ist wie so oft eine Lüge.

Was nach dem Münchner abkommen geschah
Der 1. Oktober 1938 war erst der Beginn der Auflösung der tschechoslowakischen Republik, denn auch andere Staaten begleichen jetzt alte offene Rechnungen.
Einen Tag nach der Besetzung des Sudetenlandes marschiert die polnische Armee – ohne Mandat der Weltgemeinschaft – in das seit langem umstrittene Olsagebiet ein. Kurze Zeit später muss ein Teil der Slowakei an das mit dem Deutschen Reich verbündete Ungarn abgetreten werden.
Die Slowakei ernennt eine Teilregierung, die beim nächsten Coup Hitlers – der „Zerschlagung der Rest-Tschechei” behilflich ist.
Zu diesem Zeitpunkt ist Präsident Beneš längst zurückgetreten und ins Londoner Exil geflüchtet.
Nach 1945 kehrt er zurück und spielt mit seinen Dekreten eine maßgebliche Rolle bei der Vertreibung der Sudetendeutschen nach 1945.
Zum Dank für seinen Einsatz als Brandstifter wurde Konrad Henlein zum Reichstatthalter und Gauleiter ernannt, tritt aber kaum noch in Erscheinung.
1945 nimmt er sich im Alter von 47 Jahren das Leben
Copyright: Agentur für Bildbiographien, www.bildbiographien.de, 2014 (überarbeitet 2023)
Lesen Sie im nächsten Beitrag: Wirtschaftlich stand das Dritte Reich nie auf sicheren Beinen. Die Ökonomie im Nationalsozialismus war von Anfang an auf Täuschung und Expansion – Krieg – gebaut. Über Autobahnen, Arbeitsschlachten, MeFo-Wechsel, Lügen und Täuschungen – ohne die Hitlers Weg in den Krieg nie funktioniert hätte.
Autobahn und Mefo-Wechsel: Adolf Hitlerm die deutsche Wirtschaft und der Weg in den 2. Weltkrieg
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Ein sehr lesenswerter Geschichts-Thriller über die letzten 10 Wochen der Weimarer Republik. Faktenreich und spannend wird das zähe Ringen aller Akteure — Hindenburg, Hitler, Papen, Schleicher — um die Macht beschrieben. Ein tolles Leseerlebnis; nur schade, dass alles so wahr ist und in die größte Katastrophe der deutschen Geschichte geführt hat.
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Die gewaltigen Turbulenzen in der europäischen Geschichte von 1914 bis 1949
meisterhaft, fundiert und fesselnd erzählt.
Ein toller Einstieg, aber auch viele neue und interessante Aspekte für alle, die sich schon intensiv mit dieser Epoche befasst haben.
Ian Kershaw, Höllensturz: Europa 1914 bis 1949*. Pantheon Verlag, 2017
Weiterführende Beiträge:
Trommeln in der Nacht: Am 30. September 1938 wurde nach monatelanger Krise das „Münchner Abkommen“ zwischen England, Frankreich, Italien und Deutschland geschlossen. Die Welt und viele Deutsche hoffen, dass durch die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete Hitlers Gier endlich gestoppt, der Frieden gerettet wäre. Ein Zeitzeugenbericht.
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Magda Goebbels (2): “Der Bock von Babelsberg”
Kranke Männer im weißen Haus: Woodrow Wilson, John F. Kennedy, aber auch Franklin D. Roosevelt waren schwer krank, als sie Entscheidungen treffen mussten, die den Lauf der Weltgeschichte verändert haben:
Amerikas kranke Präsidenten — die schwachen Seiten der Männer im Weißen Haus
Erster Weltkrieg: Ein alter Kaiser, ein auseinanderbrechender Vielvölkerstaat und jugendliche Attentäter, die bereit sind, für ihre Überzeugung zu morden. Das ist der Stoff, aus dem Albträume sind. Oder Weltgeschichte. Ein Hintergrundbericht über die Auslöser des Ersten Weltkrieges.
Sisis Franzl und der große Knall: Krieg oder Frieden?
Die Weltwirtschaftskrise 1929 und ihre Folgen: Tatsächlich ist der „Schwarze Freitag“ ein Donnerstag. Am 24. Oktober 1929 beginnen an der New Yorker Wall Street die Aktienkurse zu rutschen. Gegen Mittag wird aus Nervosität Panik, der Dow Jones sackt ab, der Handel bricht mehrmals zusammen. Der Crash wird schließlich zur Wirtschaftskrise, als jeder versucht zu retten, was noch zu retten ist — egal, zu welchem Preis.
Der schwarze Freitag. Vom Börsenkrach zur Weltwirtschaftskrise.
Flucht und Vertreibung: Von ‚Willkommens-Kultur‘ kann keine Rede sein, als in den Jahren zwischen 1944 und 1950 rund 12 Millionen Deutsche und Deutschstämmige aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien und dem Sudetenland in den Westen fliehen. In den Augen vieler Einheimischer sind sie die „Polacken“, die ihnen das Wenige, das sie nach dem verlorenen Krieg noch haben, wegnehmen wollen.
Ihr Flüchtlinge!
Linkempfehlungen:
„Kohen ist nicht zu fassen.“ Ein Porträt Konrad Henleins. Welt ‚1999:
https://www.welt.de/print-welt/article581192/Kohen-ist-nicht-zu-fassen.html
Bildnachweise:
Besetzung der Tschechoslowakei durch die deutschen Truppen, Oktober 1938, UBz: Einwohner von Eger beim Einrücken deutscher faschistischen Verbände. Herausgabedatum: 5. Oktober 1938, Scherl / Weltbild, Bundesarchiv, Bild 183-H13160 / CC BY-SA 3.0
Der erste Präsident der Tschechoslowakei, Tomáš Garrigue Masaryk, 1918, gemeinfrei
Sprachverteilung in der Tschechoslowakei um 1930, „Tschechoslowakei Sprachverteilung um 1930 — erstellt 2008–10-29“ von derivative work: Henry Mühlpfordt (talk)Czechoslovakia1930linguistic.jpg: Mariusz Pazdziora — Czechoslovakia1930linguistic.jpg. Lizenziert unter CC BY 3.0 über Wikimedia Commons
Konrad Henlein in Karlovy Vary (Karlsbad), 1937, unbekannter Fotograf, gemeinfrei
Edvard Beneš – Zweiter Präsident der Republik Tschechoslowakei, gemeinfrei
Staatsbesuch des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern Dr. Frick in Süddeutschland (ohne Ortsangaben), 23 September 1938, unbekannter Fotograf. Abgebildet: ? , v. Bomhard, Krebs, Dr. Stuckart, Henlein (2.v.r.), Frick ( 1.v.r.); Frick, Wilhelm Dr.: NSDAP, MdR, Reichsinnenminister, 1946 hingerichtet, Henlein, Konrad: Reichskommissar, Gauleiter im Sudetenland, Bomhard, Adolf von: Generalleutnant, Chef der Ordnungspolizei, Bürgermeister Prien am Chiemsee; Bundesarchiv, Bild 121‑0009 / CC-BY-SA 3.0
Konrad Henlein war mein Taufpate. Leider habe ich das erst erfahren, als er und auch meine Eltern gestorben waren. Ich hätte gerne mehr über ihn erfahren. Wenn noch Nachkommen leben, würde ich gerne Kontakt mit diesen aufnehmen.
T.D. geb. 21.08.1938 in Dresden
In dem Satz, in dem von Wohlstand, wirtschaftlichen Erfolgen u. fast Vollbeschäftigung im deutschen Reich die Rede ist, müsste jeweils das Wort “scheinbar” eingefügt werden. Der Satz zeigt so, dass die Nazi-Propaganda immer noch wirksam ist. Zwar ist in den Wochen unmittelbar nach der Machtergreifung die Arbeitslosigkeit stark zurückgegangen, was aber wohl kaum das verdienst der neuen Regierung war, aber danach ist die Arbeitslosigkeit bis zum Kriegsausbruch immer noch hoch geblieben, obwohl 3 Jahrgänge junger Männer und ein Jahrgang junger Frauen vom Arbeitsmarkt genommen waren. Im März 1939 konnte das Deutsche Reich die Zahlungsunfähigkeit nur durch die Einnahme der tschechischen Gold- u. Devisenreserven vermeiden.
Die Soldaten aus dem Reich kehrten reichbepackt nach Hause zurück, denn sie konnten in der Tschechei viele Waren kaufen, die es zu Hause gar nicht oder nur eingeschränkt oder viel teurer gab.
“Die einen kamen heim ins Reich, die anderen reich ins Heim”
Herzlichen Dank für diesen sehr guten Hinweis!