Wenn dunkle Geheimnisse ans Licht kommen, stellen sie alles infrage. Nichts kann so bleiben, wie es war, weder für den Lügner noch für den Belogenen.
Aber Entdeckungen und Enthüllungen zerstören nicht nur, sie bieten auch eine Chancen für einen Neuanfang.
Soll man Geheimnisse enthüllen oder verschweigen?
Aber der hat ja gar nichts an!, schreit plötzlich ein Kind, als der Kaiser nackt und stolz unter seinem Baldachin dahinschreitet, um seinem begeisterten Volk seine neuen Kleider zu präsentieren.
Plötzlich fällt es allen wie Schuppen von den Augen.
Die Untertanen hören auf zu jubeln und starren entsetzt auf ihren nackigen Kaiser..
Bis zum Ausruf des Kindes hatte es keiner gewagt, das Offensichtliche auszusprechen.
Denn die beiden Betrüger, die vorgaben, des Kaisers neue Kleider zu weben und zu schneidern, waren raffiniert vorgegangen: Sie hatten behauptet, dass jeder, der ihre angeblich so wunderbaren Stoffe und Kleider nicht sehen könne, dumm oder seines Amtes nicht würdig wäre.
- Und so saßen sie kollektiv der typisch-menschlichen Vermeidungsstrategie auf, die uns allen so oft einflüstert, dass nicht sein darf, was nicht sein soll.
Wir spüren, dass etwas nicht stimmt, aber wollen es im wahrsten Sinn des Wortes nicht wahrhaben.
Werden wir zum Opfer von Betrügern, weil wir nicht glauben wollen, dass wir betrogen werden?
Großvaters Geheimnis
Auch mein Großvater war ein Betrüger, allerdings webte er keine unsichtbaren Kleider, sondern ein Familienglück, das es schon längst nicht mehr gab. Es war im März 1943, gerade einmal vier Wochen nach der Katastrophe von Stalingrad.
- Fernab vom Krieg war es ein Jahr, in dem in meiner Familie Geschichte geschrieben wurde — denn Großvaters Betrug ließ sich nicht länger verbergen.
Es begann zunächst schön: Mein Großvater Karl war gerade Vater geworden; meine Großmutter hatte ihr drittes Kind geboren, ein kleines Mädchen, meine Mutter.
Kurz nach ihrer Geburt kam mein Großvater Karl auf Heimaturlaub vom Krieg (den er vor allem an der ‘Heimatfront’ in Berlin verbrachte) nach Hause.
Zur großen Überraschung aller kam Karl nicht alleine, sondern in Begleitung einer jungen, hübschen Berlinerin.
Sie sei die Frau eines gefallenen Kameraden, schwanger, ausgebombt und wisse nicht wohin, erklärte er, und sollte bei ihnen wohnen, bis sich eine andere Lösung gefunden habe.
Selbstverständlich nahm meine Großmutter die junge Frau auf – Frauensolidarität eben. Außerdem war man im Krieg gewohnt, enger zusammenzurücken und sich gegenseitig zu helfen, wenn man konnte.
- Die beiden Frauen verstanden sich gut. Die “junge Berlinerin”, wie sie in unserer Familiengeschichte genannt wird, half meiner Großmutter im Haushalt und bei den Kindern, sie war freundlich und zugewandt. Karl reiste nach wenigen Tagen Urlaub wieder ab, hochzufrieden, dass zuhause alles wie am Schnürchen lief.
Wie so oft ließ er meiner Großmutter einen Koffer mit Geschäftskorrespondenz und Belegen zum Sortieren da. Als sie nach einigen Wochen endlich zum Ordnen des Kofferinhaltes kam, fand sie neben Geschäftsbriefen und Quittungen auch ein privates Schreiben an ihren Mann, meinen Großvater.
Dieser Brief führte ihr sehr deutlich vor Augen, dass ihr Ehemann Karl unter ‚Enger-Zusammenrücken‘ etwas anderes verstand als sie.
Der Brief stammte von ihrer neuen Mitbewohnerin, der jungen Berlinerin — und angeblichen „schwangeren Frau eines gefallenen Kameraden“.
In diesem Brief ließ die ihrem „Lieben Karl” wissen, dass sie schwanger von ihm war.
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Ist geteiltes Leid auch halbes Leid?
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt, obwohl Großvaters Geheimnis einen lebenslangen tiefen Schmerz bei meiner Großmutter hinterlassen hat.
Zunächst war sie entsetzt und verzweifelt. Vermutlich musste sie diesen Brief mehrmals lesen, bis sie begriff, was los ist.
Wer begreift schon schnell, wenn ihm gerade sein komplettes Leben (oder das, was man dafür hielt) um die Ohren fliegt?
Dann tat sie das, was wahrscheinlich viele an ihrer Stelle getan hätten: Sie zerriss den Brief, um wenigstens das unselige Beweisstück loszuwerden, das ihr Leben völlig aus den Angeln gehoben hatte.
Sie vernichtete ihn und warf die Fetzen in die Sickergrube hinters Haus (was sie vermutlich lieber mit meinem Großvater getan hätte).
Kurze Zeit später war meine Großmutter eine geschiedene Frau, die mit drei kleinen Kindern wie viele andere Frauen die letzten entbehrungsreichen und unsicheren Kriegsmonate alleine durchstehen musste.
Bei meinem Großvater wirkt es so, als hätte er die Entdeckung absichtlich herbeigeführt, denn wer wirklich (s)ein Geheimnis bewahren möchte, steckt es nicht in einen Koffer und übergibt den dann dem Menschen, der dadurch am heftigsten verletzt wird.
Das aus gutem Grund, denn lügen und betrügen ist anstrengend.
- Ein dunkles Geheimnis zu bewahren, ist eine enorme psychische Belastung, aber auch eine körperliche Anstrengung. Es fordert nicht nur viel Hirnleistung, sondern macht auch, wie man heute weiß, körperlich krank.
Je ‚gefährlicher‘ ein Geheimnis ist, desto mehr Energie muss der Geheimnisträger in die Kontrollarbeit stecken. Trotzdem bleibt immer die Angst, durch einen dummen Zufall entdeckt zu werden.
Muss also alles raus, um an Leib und Seele gesund bleiben zu können? Ist „geteiltes Leid“ auch „halbes Leid“? Fühlt man sich nach einem Geständnis wirklich besser?
Enthüllen oder schweigen?
Das Enthüllen eines Geheimnisses ist ein zweischneidiges Schwert.
Vermutlich hat mein Großvater, wie viele andere auch, sein Geheimnis auf den Präsentierteller (in den Koffer) gelegt, weil er sich Erleichterung verschaffen wollte und sein Doppelleben mit Schuldgefühlen und der ständigen Angst vor Entdeckung beenden wollte.
- Ein Geheimnis zu offenbaren, um die eigenen Schuldgefühle loszuwerden, ist der schlechteste Grund, um Lüge und Betrug zu gestehen.
Enthüllen oder schweigen?
Natürlich ist es heldenhaft, endlich ehrlich zu sein und die Konsequenzen seiner Enthüllung in Kauf zu nehmen – bei Großvater Karl die Scheidung. Viel schwerer als die eigene Befindlichkeit wiegt aber die Entscheidung, die Menschen, die einem vertrauen, in tiefes Unglück zu stürzen und sie nach der Enthüllung an vielem (ver-)zweifeln zu lassen.
Wer sein Geheimnis nicht länger verbergen möchte, trägt Verantwortung. Das Motto: „Ich sag’s einfach, sollen die anderen was daraus machen“, ist unfair und schafft viele neue Probleme. Geholfen ist damit niemandem.
Ausschlaggebend für die Entscheidung, ob man ein Geheimnis beichten oder für sich behalten sollte, ist die Antwort auf die Frage, ob man dem Menschen, den man getäuscht hat, weiterhilft. Ob es dem anderen langfristig etwas „bringt“, dieses Geheimnis zu erfahren, beispielsweise für die Neuausrichtung seines eigenen Lebens (oder der Beziehung zueinander).
Dafür gibt es keinen allgemeingültigen Weg.
Die Entscheidung „Enthüllen oder Schweigen?“ ist immer eine sehr einsame Entscheidung.
Warum wir belogen werden wollen
Eigentlich wird an der Stelle; „ … kam nicht allein, sondern in Begleitung einer jungen, hübschen Berlinerin …“ jeder stutzig.
Auch für meine Großmutter gab es keinen Grund, an dieser Stelle nicht stutzig zu werden, selbst wenn man in Kriegszeiten das „Enger-Zusammenrücken“ und helfen eher gewohnt war als heute.
Wie gestalteten sich das Zusammenleben und der Alltag dieser eigenartigen Ménage-à-trois während des Urlaubs meines Großvaters?
Wie verliefen die gemeinsame Abende, wenn die Kinder im Bett waren, und man zu Dritt zusammensaß? Ein heimliches Paar und daneben die unwissende Ehefrau?
Gab es Blicke, ein Flüstern, flüchtige Berührungen? Vermutlich gab es sie.
Warum wir belogen werden wollen
Es gibt zwei mächtige psychologische Prinzipien, die verhindern, dass wir die Wahrheit erkennen, obwohl sie eigentlich schon längst auf dem Tisch liegt:
- die Vermeidung einer kognitiven Dissonanz: Wir wollen an unseren einmal getroffenen Entscheidungen festhalten und sie als „gut“ und „richtig“ empfinden, auch wenn alles dagegen spricht.
- ein weiterer Effekt, der bei der Verdrängung unangenehmer Wahrheiten eine Rolle spielt, ist der sogenannte sunk cost effect, der Effekt der versenkten Kosten. Wenn wir an etwas glauben und hart dafür gearbeitet haben, fällt es uns schwer zu akzeptieren, dass alle Mühen und Anstrengungen umsonst gewesen sein sollen. Wir haben viel investiert — jetzt soll es auch funktionieren! Auch dann, wenn sich die Voraussetzungen verändert haben und das Ziel unerreichbar geworden ist (oder nie erreichbar war).
Umso schlimmer ist es, wenn ein Geheimnis offenbart wird, und all die schönen Strategien für: „Ich mach‘ mir die Welt, wie sie mir gefällt“ nichts mehr nützen.
Der Moment, wenn der Mantel der Lüge gefallen und der Teppich unter den Füßen weggezogen ist. Wenn von einem Augenblick auf den anderen alles infrage gestellt wird, der Betroffene die nackte Wahrheit erkennt und erschüttert vor den Trümmern seiner ehemals heilen Welt steht.
- Das Schlimmste ist für viele, dass sie nicht nur das Vertrauen zum Geheimnisträger verlieren, sondern auch das Vertrauen zu sich selbst:
Wie konnte ich mich nur so täuschen lassen?
Habe ich mein Leben auf Sand gebaut? Warum habe ich jemandem vertraut, der meines Vertrauens nicht würdig war?
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In jeder Krise steckt auch eine Chance
Jede Enthüllung oder Entdeckung eines Geheimnisses hat einen hohen Preis.
Die Getäuschten verlieren das Vertrauen in einen nahen oder geliebten Menschen und sind häufig bis in ihre Grundfesten erschüttert und ‚ent-täuscht‘ … der Kaiser wird vermutlich so schnell niemandem mehr vertrauen.
Dazu kommen die Selbstzweifel als Folge von Verrat und Betrug: Wie soll man jemals wieder zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen real und nicht real unterscheiden können?
Wem kann man überhaupt trauen?
Aber auch der Geheimniskrämer, der sich bewusst oder unbewusst offenbart hat, zahlt einen Preis: Der Erleichterung, dass jetzt “alles raus“ ist und offen auf dem Tisch liegt, folgen neue Probleme, nicht zuletzt die Schuldgefühle gegenüber dem, den man verletzt hat.
Krise als Chance
In der Krise nach der Enthüllung eines Geheimnisses steckt eine große Chance – für beide Seiten.
Für den Belogenen und Betrogenen ist jetzt klar, dass er sich und seine Welt neu definieren muss. Bei genauem Überlegen merken viele — oft erst im Nachhinein — , dass das Bauchgefühl eigentlich schon lange Alarm geschlagen hat. Jetzt gibt es kein Zurück und keine Ausreden mehr, die Tatsachen liegen auf dem Tisch.
- Wer klug ist, nimmt jetzt seine Enttäuschung zum Anlass und beginnt mit der Revision seiner eigenen Geschichte.
Nach der Enthüllung eines dunklen Geheimnisses ist es für den Belogenen und Betrogenen verlockend, den anderen schuldig zu sprechen und sich selbst moralisch überlegen zu fühlen.
- Im ersten Moment der Krise ist das eine durchaus sinnvolle Strategie, um sich und seine Seele zu schützen; langfristig hilft diese Haltung allerdings nicht weiter. Denn um später wieder vertrauen zu können, muss die Wunde heilen.
Das geht nicht ohne das Aufarbeiten des Geheimnisses – ohne zu beschönigen und zu verleugnen –, und es geht auch nicht, ohne irgendwann verzeihen zu können.
Denn der Lügner und Betrüger hatte seine Gründe für sein dunkles Geheimnis. Und er hatte vielleicht auch gute Gründe, es zu offenbaren.
- Die Wahrheit zu kennen, auch wenn man sie fürchtet, kann auf lange Sicht sehr viel Kraft geben. Ein ungutes Bauchgefühl und Verdrängung helfen auf Dauer nicht weiter und sind emotionale Energiefresser.
Für meine Großeltern gab es allerdings weder Verzeihen noch Happy End.
Weder Großmutter noch Großvater konnten über einen zugegebenermaßen sehr langen Schatten springen: Großvater konnte sich nicht entschuldigen, Großmutter nicht verzeihen.
Sie lebten noch 50 Jahre ohne viel Kontakt zueinander in dem kleinen Ort, wo sich ihre Geschichte zugetragen hat, und wussten alles voneinander, ohne miteinander zu sprechen. Noch 50 Jahre später wechselte meine Großmutter eilig die Straßenseite, sobald ihr mein Großvater entgegenkam.
Mein Großvater war noch zweimal verheiratet, meine Großmutter einmal.
Keine ihrer Ehen war glücklich.
Copyright: Agentur für Bildbiographien, 2014 (überarbeitet 2024), www.bildbiographien.de
Lesen Sie im nächsten Beitrag: Der Schauspieler Ben Affleck plauderte vor Kurzem in einem bekannten amerikanischen Podcast, der Millionen Hörerinnen und Hörer erreicht, darüber, dass seine Ehe mit Jennifer Garner und das Gefühl, in einer Ehefalle festzustecken, der Grund für seine Alkoholsucht gewesen sei. Ob er sich damit einen Gefallen getan hat?
Schuld und Sündenböcke: Wenn emotionale Wunden nicht heilen
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Liebe: Die meisten Partnerschaften zerbrechen nicht an der einen großen Krise. Bis die Geliebte vor der Tür steht, ist die Liebe meistens schon längst leise und still an der offenen Zahnpasta-Tube gestorben, an den kleinen Alltags-Nervereien und Ungerechtigkeiten, mit denen sich (Eltern-) Paare gegenseitig oft bis auf’s Blut quälen. Liegt das an der Krise der Männlichkeit?
Der Mann in der Krise
Die Geliebte: Den absolutistischen Königen und Aristokraten war das politische Tagesgeschäft oft zu mühsam — sehr zur Freude ihrer Geliebten, die manchmal viel Vergnügen an Macht, Einfluss und am Regieren hatten. Die berühmteste und einflussreichste „maîtresse en titre“ in der Geschichte war die Marquise de Pompadour, die legendäre Geliebte des Urenkels des Sonnenkönigs, König Ludwig XV.
Die Marquise de Pompadour
Bildnachweise:
Agentur für Bildbiographien
Guten Tag Frau Dr. Gebert!
Eine bewegende Geschichte, ein interessanter Beitrag!
Am Ende bleiben Fragen. Soll ich ein Geheimnis lüften oder nicht? Was wiegt schwerer? Die Verantwortung mit gegenüber oder gegenüber anderen? Und liegt in meiner Verantwortung nicht auch, den anderen die Möglichkeit zu geben, ihr Leben selbst zu bestimmen und zu meistern?
Warum habe ich überhaupt ein Geheimnis? Nötigt mich vielleicht der Andere dazu oder nötigen mich Umstände dazu, die einem „ungeschriebenen“ Gesetz unterliegen, gesellschaftlichen, überholten Regeln?
Kann ich auf Vergebung hoffen? Oder auf Gemeinsamkeit, Verständnis, an einem Strang ziehen?
Fragen über Fragen!
Ihr Beitrag erinnert mich an mein Leben. Viele sagen „Meine Güte, was Du alles hinter Dir hast und meistern musstest!“
Ich selbst empfinde es gar nicht so! Und zurückblickend sowie solche Beiträge wie diesen lesend, kann ich mit Stolz auf mein Leben blicken.
Mich durchschlagend, von Kindheit an mit meinen Gedanken und Gefühlen allein, sehr jung Mutter geworden, zeitweise ohne Geld, aber niemals hatte ich den Gedanken, es könnte etwas schieflaufen.
Das Leben geht weiter! Immer! Es hört nicht einfach so auf!
Erinnerungen tauchen bei mir auf!
Eines Tages als ich zum ersten Mal in meinem Leben arbeitslos war und das drei Monate lang, geriet ich in eine leichte depressive Phase.
Mein damals 11jähriger Sohn hatte eine einzige Aussage an mich und meine kleine Depression: „Mensch Mama, es ist doch alles gut! Du hast uns so oft aus der Scheiße rausgeholt, das schaffst Du auch dieses Mal!“ Ich werde diese Sätze niemals vergessen.
Welche Bedeutung liegt in diesem Satz eines Elfjährigen? Abgesehen von dem Vertrauen, das er mir offensichtlich entgegen brachte?
Dieser Satz gab mir Vertrauen in meine Kinder und Zuversicht auf ihre Zukunft. Sie haben gelernt, dass es Krisen gibt, dass die Welt kein Zuckerschlecken ist, dass Krisen einen eben nicht ins Unglück stürzen, sondern immer wieder zu bewältigen sind und das Leben immer schön sein kann.
Es liegt in einem selbst, Freude, Stolz, Erfolg und Zuversicht zu finden.
Wann immer sich die falsche Richtung auftut: Hinschmeißen, Aufgeben, etwas Neues anfangen! Das habe ich gelernt und das habe ich meinen Kindern mitgegeben.
So manches Mal habe ich überlegt, ob das richtig war.
Ihr Beitrag zeigt mir: Ja, das war es!
Es scheint das Beste im Leben eines Menschen zu sein, so früh wie möglich zu lernen, dass jeder auf sich selbst gestellt ist, für sich selbst verantwortlich ist, Vertrauen zwar schön ist, aber gut gewählt sei, worin vertraut wird oder wem und vor allem davon auszugehen ist, dass Vertrauen missbraucht werden kann. Nicht aus Bosheit, sondern der Umstände wegen, weshalb sodann Vergebung natürlich ist und weiterhilft. Der Mensch gegenüber hat ein Recht auf sein Glück!
Um also auf die Frage „Geheimnis lüften oder nicht?“ zurückzukommen:
Ich würde es immer so halten, ein Geheimnis zu lüften und auch jeden bitten, mir zu offenbaren, wenn er ein mich betreffendes Geheimnis mit sich trägt.
Gerade weil wir bemerken, wenn es ein Geheimnis gibt oder etwas in Schieflage geraten ist und uns dieser Umstand sehr viel Energie kostet.
Auch habe oder gebe ich dann die Möglichkeit einer Wahl, einer Entscheidung!
Kommt mir jemand mit den Worten: „Kannst Du ein Geheimnis bewahren?“ so antworte ich mit „Nein! Ziemlich sicher nicht!“ Ich möchte ein Geheimnis gar nicht erst hören oder selbst verursachen!
Wie also lautet Ihre persönliche Entscheidung zu dieser Frage?
Die Geschichte Ihrer Großmutter ist selbstverständlich bedauernswert, aber leider auch „normal“, egal in welchen Zeiten wir gerade leben.
Und was ist aus dieser armen, jungen, schwangeren Berlinerin geworden? Die Person, die sich ja nun wirklich allen Ereignissen hilflos hingeben musste, dem Geheimnis am meisten unterworfen war und sich als einzige an die „Regeln des Geheimnisses“ gehalten hat.
Ihre Großmutter hatte die alles entscheidende Wahl! Eine schwierige Situation, mit vielen aufbrausenden Emotionen und außerdem gemein, weil sie „gefühlt“ allein davor stand.
Stand sie aber nicht!
Da war die Schwester, die offensichtlich eine Entscheidung in die Bahn gelenkt hat, indem sie den Brief gerettet hat. Es scheint so, als wäre Ihre Großmutter gern einen anderen Weg gegangen.
Da war aber auch noch die Berlinerin, welche Ihre Großmutter sowie deren Kinder inzwischen lieb gewonnen hatten. Zwei Freundinnen standen sich gegenüber, die nur einen einzigen „Makel“ hatten: Sie liebten denselben Mann.
Es klingt in Ihrer Geschichte so natürlich, so selbstverständlich, dass die junge, schwangere Berlinerin aus dem Haus gejagt wurde. Kein weiterer Satz zu dieser Frau.
Wie mag für sie wohl das Leben gelaufen sein?
Hat sich Ihre Großmutter Gedanken darüber gemacht, wie es wohl dieser einst lieb gewonnen Freundin ergangen sein mag?
Wäre es nicht auch eine Lösung gewesen, die Berlinerin im Boot zu lassen und gemeinsam einen schwierigen Weg zu gehen? Eventuell wäre Ihre Großmutter mit einer solchen Entscheidung glücklicher geworden.
Wieso musste nun die Berlinerin die Leidtragendste überhaupt werden, zumindest aus meiner Sicht der Dinge? Nur weil sie denselben Mann liebte wie Ihre Großmutter?
Wäre es nicht insgesamt besser gewesen, alle Beteiligten hätten sich zusammen eine gute Lösung überlegt?
Ist das nicht vielleicht der Wunsch, der hinter dem Lüften eines Geheimnisses steckt? Ist es vielleicht der Ruf nach Hilfe? Und wenn ja, ist es so schwierig und unvorstellbar, diesem Ruf zu folgen und alle persönlichen Animositäten über Bord zu werfen? Auf der anderen Seite steht häufig ein verzweifelter Mensch, der bittet, fragt und irgendeinen Frieden möchte. Und soll das egoistisch sein? Oder ist es vielmehr zielführend für alle Beteiligten?
Ist es nicht grausam, einen Hilfesuchenden zu ignorieren? Aus Verbitterung, Wut und Rachegefühlen?
Ich denke, hinter der Frage „ein Geheimnis lüften oder nicht?“ steht vor allem die Frage „kann ich auf eine vernünftige Reaktion vertrauen oder nicht?“ Und viel zu häufig scheint die Antwort darauf ein klares „Nein!“ zu sein. Und bestraft wird am Ende die Person, die am wenigsten Anteil am Entstehen eines Geheimnisses hatte.
Wie gesagt: Ein interessanter Beitrag, der zu Überlegungen anregt und hilft, mit Stolz auf eigene Entscheidungen und das eigene gemeisterte Leben zu blicken sowie für den manchen Tiefschlag äußerst dankbar zu sein, anstatt daran zu verzweifeln.
Herzliche Grüße
Stefanie
Guten Morgen Stefanie,
vielen herzlichen Dank für Ihren tollen Beitrag!
Das sind sehr bedenkenswerte Aspekte. Die ‘Berlinerin’ kam in unserer Familiengeschichte tatsächlich (fast) nie wieder vor — sie heiratete meines Wissens nach dem Krieg einen GI und zog mit ihm später in die Vereienigten Staaten. Das Verblüffendste: Ihre Tochter kam zur Beerdigung meines Großvaters und hat sich vor allem mit seiner ältesten Tochter, meiner Tante, sehr gut verstanden. Insofern eine Versöhnung, aber erst in der nächsten Generation.
Und: Schaffen wir es, niemals unversöhnlich verletzt zu sein? Ich weiß es nicht.
Herzliche Grüße!
Susanne