Über den letzten deutschen Kaiser Wilhelm II. (auch „das Großmaul”´genannt), Licht und Schatten der wilhelminischen Epoche, die Suche nach einem Platz an der Sonne und der Weg in den ersten Weltkrieg.
„Es wäre besser gewesen, Du wärest nie geboren worden“, soll ihm seine Mutter Victoria, die älteste Tochter der legendären britischen Queen Victoria, an den Kopf geworfen haben.
Ob dieser mütterliche Wutausbruch tatsächlich so stattgefunden hat, ist historisch nicht eindeutig belegt, aber eine glückliche Kindheit hatte Kaiser Wilhelm II, in späteren Jahren auch „Wilhelm das Großmaul“ genannt, mit Sicherheit nicht.
Sein persönlicher Kampf seit Kindertagen galt aber weniger seiner Mutter, sondern vor allem seinem verkürzten linken Arm. Der spielte vermutlich eine wesentliche Rolle für den weiteren Lauf der Geschichte.
Kaiser Wilhelm II.: Zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt
Wilhelms Arm ist von Geburt an zu kurz und zu unbeweglich geraten.
Der behinderte Arm ist vermutlich die Folge eines Geburtsfehlers, der vermeidbar gewesen wäre, hätte sich der behandelnde Arzt getraut, während der Niederkunft Wilhelms Mutter unter die Röcke zu schauen.
- Das tat er, ganz Zeitgeist, natürlich nicht.
Stattdessen musste er sich durch eine schwierige Geburt mit einem großen und falsch platzierten Baby hindurchtasten.
Der kleine Junge überlebt die Geburt, aber der linke Arm war in Mitleidenschaft gezogen und blieb es auch.
Es wird alles versucht, um den unglückselige Arm mit diversen schmerzhaften Prozeduren wie Streckverbänden, Stromstößen oder auch „animalischen“ Bädern in Hasenblut zu kurieren.
Ohne durchschlagenden Erfolg.
- Der kleine Thronfolger bringt Schmerzen und Maßnahmen fast tränenlos hinter sich. Aber der Arm bleibt trotz aller Anwendungen verkürzt. Ein schwerer Makel zu jener Zeit, vor allem für einen zukünftigen Regenten und Kaiser.
Wilhelm entwickelt sich zu einem launischen Kaiser; er ist impulsiv, oft unüberlegt und erschreckend uninformiert, dabei von einer unerschütterlichen Großmäuligkeit. Seine Launen sind gefürchtet, aber vor allem glänzt er dadurch, dass er von den Dingen, über die er entscheidet, meistens nicht viel Ahnung hat.
Mehrmaliger Kostümwechsel pro Tag – vor allem jede Art von Uniform — stehen hoch im Kurs; außerdem Pomp, Eitelkeit und der Versuch, den verkürzten und schwachen linken Arm unter irgendwelchen Jacken und Überwürfen zu verstecken.
Seinen in der damaligen Zeit als Missbildung empfundenen Arm versucht er durch Großspurigkeit, besonders robustes Auftreten und dem hohen Anspruchsdenken innerlich unsicherer Menschen wettzumachen. Wider besseren Wissens schreibt er beispielsweise in einem Brief an den Prince of Wales, seinem Onkel und späteren König Eduard VII.: “Ich bin der alleinige Herr der deutschen Politik und mein Land muss mir folgen, wo immer ich hingehe.”
“Wenn Wilhelm eine klare und in sich stimmige Vision verfolgt hätte, könnte man die Wirkung einfach am Ergebnis messen, aber seine Intentionen waren stets unbestimmt, und der Brennpunkt seiner Aufmerksamkeit wechselte ständig. Ende der neunziger Jahre schwärmte der Kaiser von dem Projekt, ein “Neudeutschland” in Brasilien zu gründen, und “verlangte ungeduldig”, die Einwanderung in diese Region zu fördern und so schnell wie möglich zu steigern — wie man sich denken kann, wurde nichts daraus. Im Jahr 1899 teilte er Cecil Rhodes mit, er habe die Absicht “Mesopotanien” als deutsche Kolonie zu erwerben. Und ein Jahr später, zur Zeit des Boxeraufstands, kam von ihm der Vorschlag, ein ganzes deutsches Armeekorps nach China zu entsenden, mit dem Auftrag, das Land zu teilen …“
Aus: Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den 1. Weltkrieg zog*
Wilhelm, das Großmaul
Wilhelm II. gibt gerne den absolutistischen Alleinherrscher, auch wenn das nicht der Realität im Kaiserreich entspricht. Sein Reichskanzler, seine Minister und vor allem der Reichstag haben immer ein Wort mitzureden, besonders wenn es um die Finanzierung von Projekten geht.
- Trotzdem ist Wilhelm weit mehr als nur ein pompös ausgestatteter Operettenkaiser zu rein repräsentativen Zwecken: Wer etwas von ihm will, bricht mit ihm nach dem Mittagessen zu einem ausgedehnten Waldspaziergang auf, um mit ihm zu plaudern. Traf man beim Spazierengehen den richtigen Ton, traf der Kaiser anschließend die „richtige“ Entscheidung. Ohne großes Nachdenken oder Zögern, sondern spontan aus dem Bauch heraus.
“Wie Nikolaus II. umging auch Wilhelm (vor allem in den ersten Jahren seiner Herrschaft) häufig die zuständigen Minister, indem er sich mit ‘Lieblingen’ beriet, förderte Grabenkämpfe zwischen den Gruppen, um die Einheit der Regierung zu schwächen, und vertrat öffentliche Anschauungen, die entweder nicht mit den betroffenen Ministern abgesprochen waren oder der dominierenden politischen Linie widersprachen.“
Aus: Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den 1. Weltkrieg zog*
Mindestens genauso problematisch wie viele seiner Entscheidungen und Ideen sind seine Reden. Er schwingt sie oft unüberlegt und unbedarft und bringt dadurch Volk und Vaterland nicht selten in die Bredouille.
- Mit Sicherheit gehört seine berüchtigte Hunnenrede zu einem seiner vielen fragwürdigen Auftritte, allerdings war für seine Zeitgenossen die sogenannten „Daily Telegraph-Affäre“ aus dem Jahr 1908 noch wesentlich unangenehmer.
In diesem (nicht freigegebenen) Interview für die britische Zeitung Daily Telegraph erklärt sich Kaiser Wilhelm zum einzig wahren Freund der Briten im ansonsten anti-britisch gesinnten Deutschen Reich und behauptet außerdem, er habe seiner Großmutter Queen Victoria wichtige Tipps im Burenkrieg gegeben, die Großbritannien letztendlich zum Sieg verholfen hätten.
Tipps und Tricks für’s Regieren und Kriegführen vom deutschen Kaiser?
Die Briten, die sich damals als einzige wirkliche Großmacht empfinden und ein Empire regieren, in dem die Sonne nie unterging, sind not amused.
Aber sie nehmen des Kaisers Behauptungen erstaunlich gelassen hin, auch wenn sie sich weder damals noch heute gerne sagen lassen, dass sie deutsche Ratschläge bräuchten.
Im deutschen Kaiserreich wird das Interview zur Affäre. Nach einer hitzigen Debatte im Reichstag fordern alle Abgeordneten einschließlich der kaisertreuen Konservativen, seine Majestät möge sich zukünftig in seinen Äußerungen etwas zurücknehmen.
Seine Reichskanzler, Minister und hohe Militärs versuchen spätestens nach diesem Ausrutscher Seiner Majestät ihren Kaiser so gut es geht aus der Tagespolitik herauszuhalten — es sei denn, sie brauchen ihn für eigene Interessen auf ihrer Seite. Dann gehen sie mit ihm spazieren …
“Jeder ist seines Glückes Schmied”: Licht und Schatten der wilhelminischen Epoche
Die „wilhelminische“ Epoche ist das Spiegelbild eines Kaisers, der nur die beiden Seelenzustände „himmelhoch jauchzend“ oder „zu Tode betrübt“ kannte.
Kaiser Wilhelms Regentschaft ab 1888 ist einerseits geprägt von einem bis dahin nie gekannten Fortschritt in den Bereichen Technik, Verkehr und Medizin, andererseits durch eine ebenfalls nie gekannte Verelendung breiter Bevölkerungsschichten.
- Auf der Schattenseite des technischen und wirtschaftlichen Aufschwungs Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entsteht als neue Bevölkerungsschicht in ganz Europa das Proletariat: Industriearbeiter und Zechenkumpel, die ihre Arbeitskraft, ihre Gesundheit und oft genug ihr Leben geben, um die Schiffe, Eisenbahngleise und Waffen zu bauen, die der Wirtschaftsboom jener Jahre braucht, oder die Kohle aus der Erde zu holen, den Treibstoff der Industrialisierung.
Arbeiterinnen und Arbeiter hausen mit ihren Familien unter unwürdigsten Bedingungen auf engstem Raum in schäbigen Mietskasernen und haben trotz 12-Stunden-Schichten oft nicht das Nötigste zum Leben. Krankheiten wie die Tuberkulose grassieren, die Kindersterblichkeit ist hoch, Armut und Verzweiflung ebenso.
In den Städten und Industriegebieten leben im Kaiserreich um 1900 mindestens 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung in Schmutz, Elend und immer am Rande des Hungers. In einer Zeit, in der das Motto „Jeder ist seines Glückes Schmied“ zum geflügelten Wort wird, sind Elend und Armut ein sozialer Makel.
- Die noch relativ junge Evolutionstheorie “survival if the fittest” von Charles Darwin wird als “Überlebenskampf der Stärkeren” missverstanden und uminterpretiert, um die soziale Ungerchtigkeit in der Bevölkerung zu rechtfertigen.
Wer “unten” ist und mit miserablen Lebens- und Arbeitsbedingungen zu kämpfen hat, ist einfach „selbst schuld“ am eigenen Elend. Wilhelms Epoche ist in ganz Europa die Hoch-Zeit des Sozialdarwinismus.
- Aber es formiert sich Widerstand, weil viele Arbeiterinnen und Arbeiter es nicht mehr hinnehmen wollen, sich für einen Hungerlohn in dreckigen, lauten und oft gefährlichen Fabriken oder Bergwerken abrackern zu müssen, während andere in Wohlstand und Luxus leben. “Das Gespenst des Kommunismus” geht in Europa um und bereitet Regierenden und Monarchen ebenso viel Kopfzerbrechen wie die zunehmend schwierige weltpolitische Lage.
Bismarck geht über Bord
Sozialdarwinistisch wird in jener Zeit nicht nur innenpolitisch, sondern auch außenpolitisch gedacht. Allen voran in Großbritannien, das sich mit seiner Insellage und der dafür notwendigen Schiffsflotte ein Kolonialreich aufgebaut hat, in dem die Sonne tatsächlich niemals untergeht.
- Das deutsche Kaiserreich beteiligt sich viele Jahre nicht am kolonialen Wettrennen der Großmächte. Der alles beherrschende Reichskanzler Bismarck will seine fein austarierte innereuropäische Bündnispolitik, die Deutschland vor der Gefahr eines Zwei- oder sogar Mehrfrontenkrieges schützen soll, nicht durch Streitigkeiten wegen Kolonien gefährden. Er gibt die Losung aus, dass das Deutsche Kaiserreich sich „keine verwundbaren Punkte in fernen Weltteilen“ leisten dürfe.
Als er sich ab 1884 doch noch umorientiert, ist es reichlich spät. Die anderen Nationen sind alle schon längst unterwegs und haben sich in Übersee die Filetstücke gesichert.
- Bismarcks Tage als Dauerkanzler sind gezählt, als der 29-jährige Wilhelm im „Dreikaiserjahr“ 1888 nach dem Tod seines Großvaters und kurze Zeit später den Tod seines Vaters die Regentschaft im deutschen Kaiserreich übernimmt.
1890 muss der Lotse von Bord gehen.
Er wird vom jungen Wilhelm II. in den Ruhestand geschickt und zieht sich empört auf sein Landgut in Norddeutschland zurück. Wilhelm verkündet, er wolle nun “sein eigener Bismarck sein”.
Aber es ist nicht allein Wilhelms Idee, Bimarcks Bündnisse auslaufen und einen eigenen „Platz an der Sonne“ für das Kaiserreich zu sichern; schon lange hatte die deutsche Mittelschicht und die nationale Presse Bismarcks Bündnispolitik als obstruktiv und lähmend empfunden.
Passend zum Zeitgeist der wilhelminischen Epoche will man ausbrechen aus alten Zwängen und Konventionen und auf der Weltbühne der Großmächte eine wichtigere Rolle als bislang spielen.
“Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront — diese Zeiten sind vorüber … Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“
Bernhard von Bülow, Staatssekretär des Äußeren, am 6. Dezember 1897
Zitiert nach: Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den 1. Weltkrieg zog*
Des Kaisers neue Flotte
Wer einen Platz an der Sonne haben und beim imperialen Spiel der anderen Großmächte mitmachen möchte, braucht Schiffe. Und die hat das Kaiserreich nicht, geschweige denn Werften, die solche Schiffe hätten bauen oder auch nur reparieren können.
Benötigte eines der Kriegsschiffe seiner Majestät – ein paar ältliche Panzerschiffe, die im Winter vorsichtshalber im Hafen blieben – eine Werft zum Kesselflicken, so musste es das englische Portsmouth anlaufen.
- Das ändert Wilhelm. Im Jahr 1891 lernt er den Marineoffizier Alfred von Tirpitz kennen – den „bösen Geiste der deutschen Außenpolitik“, wie einige Historiker ihn nennen. In den kommenden Jahren peitschen der Kaiser und sein Admiral mehrere Rüstungsprogramme durch den Reichstag, der anfangs skeptisch auf das Flottenprogramm reagiert.
Zunächst profitieren alle: Die Handelsmarine und die deutsche Wirtschaft, denn mit den Werften für Großschiffe entsteht ein völlig neuer Industriezweig im boomenden Deutschen Kaiserreich. 1895 wird der Kaiser-Wilhelm-Kanal (Nordostseekanal) eingeweiht, der die Wegstrecke zwischen Nord- und Ostsee um 85 Prozent für Handels- und Kriegsschiffe gleichermaßen verkürzt.
Besser noch: Der neue deutsche Schiffs-Enthusiasmus wirkt ansteckend. Alle lieben die Marine, die Kinder tragen stolz ihre Marineanzüge und Marinekleidchen und die Erwachsenen werden, gleichgültig welcher Klasse sie angehören, zu Fähnchen-schwingenden Flottenliebhabern, die loyal zu Kaiser und Vaterland (und seinen Schiffen) stehen.
- Die Kriegsmarine wird zum klassenübergreifenden sozialen Schmiermittel der Gesellschaft. Nur wenige Nörgler stören das friedliche Bild mit der Behauptung, dass diese Flotte nicht nur sehr teuer, sondern auch viel zu groß ist, um die spärlichen deutschen Kolonien zu schützen.
Wettrüsten mit Großbritannien
Bis etwa 1905 werden die deutschen Flotten-Anstrengungen, die kolonialen Träume und das alljährlich stattfindende „Kaisermanöver“ (am liebsten bei „Kaiserwetter“) von den Briten milde belächelt.
Doch mit der Zeit wird der Ton rauer und die entsprechende britische Reaktion bleibt nicht aus. 1906 sticht in Großbritannien das erste Schiff der „Dreadnought“-Klasse (frei übersetzt etwa „Fürchtenichts“) in See, ein völlig neues Schlachtschiff mit überlegener Panzerung und Bewaffnung.
- Nach dem Stapellauf der ersten „Dreadnought“ hatten der Kaiser und sein Admiral das marine Wettrüsten mit den Briten eigentlich verloren. Die britischen “Fürchtenichtse” sind eine schwimmende Revolution, eine völlig neue Kategorie von Schlachtschiffen, die die gesamte, sorgsam aufgebaute deutsche Flotte mit einem Schlag alt aussehen lässt.
Wilhelm möchte jetzt seine eigenen „Fürchtenichts“-Schiffe bauen und lässt das nächste Rüstungsprogramm auflegen. Zu einem hohen Preis: 1908 beträgt das Haushaltsdefizit des Kaiserreiches eine halbe Milliarde Mark. Es müssen neue Geldquellen erschlossen werden, um die nächste Runde des gigantischen Rüstungsprogramms zu finanzieren: Die eigens für den Schlachtschiffbau erfundene Sektsteuer beispielsweise (die uns bis heute erhalten geblieben ist).
- Doch trotz aller Anstrengungen ist die britische Überlegenheit zur See nicht einzuholen. Im Jahr 1913 verzichtet die deutsche Seekriegsleitung offiziell auf ein deutsch-britisches Wettrüsten und Tirpitz erklärt, dass er mit den von Großbritannien geforderten Mengenverhältnissen zufrieden sei.
Ein Platz an der Sonne?
Ähnlich kläglich wie das Flottenprogramm verläuft die verspätete imperiale Einkaufstour für den “Platz an der Sonne”. Egal, wo die Deutschen Fuß fassen wollen, irgendeine andere Großmacht — Großbritannien, Frankreich, Russland oder die USA - ist schon da oder hat bereits ein Auge auf das jeweilige Gebiet geworfen.
- Die Verteilung der kolonialen Sahnestückchen auf der Landkarte führt im Zeitalter des Imperialismus (= das Streben von Staaten, ihre Macht weit über die eigenen Landesgrenzen auszudehnen) zu unzähligen schweren Krisen und Kriegen mit wechselnder Besetzung. Jeder gegen jeden.
Einig ist man sich eigentlich nur bei einer Sache: Das deutsche Kaiserreich als kolonialen Newcomer will niemand mit am Tisch haben. Kaiser Wilhelm II. und seine kolonial gestimmten Untertanen müssen sich mit dem begnügen, was übrigbleibt.
“Als dagegen Bülow begeistert Kaiser Wilhelm II. zu einer neuen kolonialen Besitzung beglückwünschte und davon schwärmte, dass dieser Erwerb die Bevölkerung und die Flotte anregen werde, dem Kaiser weiter auf dem Pfad zu Weltmacht, Größe und ewigem Ruhm zu folgen, sprach er von den ökonomisch und strategisch wertlosen Karolineninseln! Es ist kein Wunder, dass manche Historiker zu dem Schluss gelangten, Deutschlands Weltpolitik sei vor allem mit Blick auf die einheimischen Verbraucher konzipiert worden: als Mittel, die nationale Solidarität zu stärken, den Reichstag langfristige, hohe Belastungen des Haushalts aufzubürden, abweichenden politischen Meinungen wie denen der Sozialdemokraten den Reiz zu nehmen und so die Dominanz der bestehenden industriellen und politischen Eliten zu konsolidieren.“
Aus: Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den 1. Weltkrieg zog*
Julikrise 1914: “Viel Feind, viel Ehr’ “?
Lange Zeit ist das deutsche Kaiserreich durch die vielen Streitigkeiten, Krisen und Kriege um Kolonien und Vorherrschaften, die die anderen Großmächte untereinander ausfechten, strategisch gut geschützt.
Aber dann setzt eine Entwicklung ein, die Bismarck durch seine Bündnispolitik immer verhindern wollte und die sich in der Julikrise 1914 als fatal erweisen wird: Frankreich und das russische Zarenreich nähern sich an, ebenso Großbritannien und Russland und Frankreich und Großbritannien.
- Die Triple Entente zwischen Großbritannien, Frankreich und Russland wird geschmiedet — und das deutsche Kaiserreich ist plötzlich wieder von potenziellen Feinden umzingelt.
Es ist Kaiser Wilhelm II. selbst, der in der Julikrise 1914 sämtliche Bedenken vom Tisch wischt und seinem letzten verbliebenen Verbündeten Österreich-Ungarn (dass Italien ein unsicherer Kandidat ist, realisiert man zu dieser Zeit sogar in Berlin) jenen verhängnisvollen “Blankoscheck” ausstellt, der die gefährliche Rutschbahn in den Abgrund des ersten Weltkriegs eröffnet.
- Danach begibt sich seine Majestät wie auch seine Minister und hohen Militärs in den Sommerurlaub, weil man erwartet, dass auch diese Krise wie die vielen anderen in den Jahrzehnten zuvor vorrüberziehen wird.
Das tut sie nicht. Russland macht als Erster mobil, auch wenn Wilhelm II. seinem Cousin Zar Nikolaus II. (Nicky) noch ein verzweifeltes Telegramm schickt, um ihn davon abzuhalten.
Durch Aufrüstung (wie alle anderen Großmächte auch), Militarismus, einer oft außerordentlich ungeschickten Diplomatie, aber auch Großmannssucht und Prahlerei hatten allen voran Kaiser Wilhelm II. und seine Berater das deutsche Kaiserreich in eine ausweglose Situation manövriert.
Aber anders als später im Versailler Vertrag festgeschrieben, trifft die Schuld an der Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts nicht Wilhelm, seine Regierung oder das deutsche Kaiserreich allein, sondern alle europäischen Akteure.
Die Nationen Europas schlitterten über den Rand, hinein in den brodelnden Hexenkessel des Krieges ohne eine Spur von Verständnis oder Bestürzung.
David Lloyd George
“Aber das Ganze hatte mit Sicherheit auch eine psychologische Dimension: In England hatte Wilhelm verzweifelt, allerdings selten erfolgreich, Beifall, Anerkennung und Zuneigung gesucht. Das Land stand für einem großen Teil von dem, was er bewunderte: eine mit den besten Kanonen und der modernsten Ausrüstung ausgestattete Flotte, Wohlstand, Kultiviertheit, Weltoffenheit und (zumindest in den Kreisen, in denen er bei seinen Besuchen verkehrte) ein gewisses aristokratisches, selbstsicheres Auftreten, das ihm imponierte, das er aber nicht nachahmen konnte. Es war die Heimat seiner verstorbenen Großmutter, über die Wilhelm später einmal sagte, dass sie, wenn sie noch gelebt hätte, es Nicky und George niemals erlaubt hätte, sich auf diese Art gegen ihn zu verbünden. Es war das Königreich seines beneideten und verhassten Onkels Eduard VII., dem es (im Gegensatz zu Wilhelm) gelungen war, das internationale Ansehen seines Landes aufzubessern. Und natürlich war es das Geburtsland seiner Mutter, die inzwischen seit 13 Jahren tot war und zu der er ein so schwieriges und ungeklärtes Verhältnis gehabt hatte. Ein wahres Wirrwarr an Gefühlen und Assoziationen begleitete ihn stets, wenn Wilhelm versuchte, die britische Politik zu interpretieren.“
Aus: Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den 1. Weltkrieg zog*
Copyright: Agentur für Bildbiographien, www.bildbiographien.de, 2015 (überarbeitet 2024)
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Linkempfehlungen:
Blut muss fließen, viel Blut. Die bizarrsten Zitate von Kaiser Wilhelm II.:
https://www.sueddeutsche.de/politik/die-bizarrsten-zitate-von-kaiser-wilhelm-ii-blut-muss-fliessen-viel-blut‑1.470594
ZDF „Weltenbrand“: Die Hölle von Verdun
https://www.youtube.com/watch?v=–gDhlsJAQU
Bildnachweise:
Kaiser Wilhelm II zwischen 1910 und 1914, E. Bieber, Hofphotograph, Library of Congress, Prints and Photographs Division, Washington, D.C. 20540 USA
Kaiser Wilhelms II Mutter Victoria: „Victoria Princess Royal , 1857“ von Franz Xaver Winterhalter — Winterhalter and the courts of Europe. Transfered from de:Image:Victoria Princess Royal , 1857.jpg. Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons.
Agentur für Bildbiographien
Königin Victoria am Tag ihres goldenen Thronjubiläums 1887, von Alexander Bassano — https://www.royalcollection.org.uk/collection/2105818/portrait-photograph-of-queen-victoria-1819–1901
„Familie um 1900“ von Original uploader was St.Krekeler at de. Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons
Hochrufe anlässlich des Geburtstags Kaiser Wilhelm II., 27. Januar 1901, Carl Hohl. Bundesarchiv Bild 163–161, Kamerun, Duala, Polizeitruppe“ von Bundesarchiv, Bild 163–161 / CC-BY-SA 3.0
“Dropping the Pilot”. Karrikatur von Sir John Tenniel (1820–1914), März 1890 im britischen Magazin “Punch”.Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia
Die “Dreadnought” (frei übersetzt: Fürchtenichts) war ein revolutionär neues Schlachtschiff , das sowohl in Panzerung wie auch in Bewaffnung alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Das erste Schiff dieser Art sticht 1906 in England in See. „HMS Dreadnought 1906“ von not stated — US Navy Historical Center Photo # NH 63367. Lizenziert unter Gemeinfrei über Wikimedia Commons