Am 7. November 1938 verübt der 17jährige polnische Jude Herschel Grynszpan in Paris ein Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst Eduard vom Rath.
Rath ist das Opfer, auf das man als Beweis für die jüdische Weltverschwörung schon lange wartet, um endlich den geplanten „Volkszorn“ zu entfesseln.
Der 9. November 1938 und seine Hintergründe.
Schleichender Antisemitismus
Nach der “Machtergreifung” im Januar 1933 machen sich die Nationalsozialisten daran, Antisemitismus in Deutschland mehr und mehr zum guten Ton werden zu lassen. Bereits in ihrer Aufstiegs- und “Kampf”-Phase in den 1920er und 1930er Jahren hat die NSDAP versucht, alteingesessene Vorurteile und Ressentiments zu schüren.
- Für die meisten Deutschen ist Antisemitismus zu diesem Zeitpunkt allerdings kein Thema.
Viele haben Ressentiments; man macht antijüdische Witze — aber von Hitlers Judenhass fühlen sich viele sogar abgestoßen, weshalb die Nationalsozialisten am Ende der Weimarer Republik bis zur Machtergreifung auf Hetzkampagnen gegen Juden weitgehend verzichten.
Den jüdischen Nachbarn gleichzeitig für den ‘jüdischen internationalen Finanzkapitalismus’ und die ‘jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung’ verantwortlich zu machen, geht vielen zu weit. Auf solche Ideen kommen nur eingefleischte Nazis. Und das ist die Mehrheit der Deutschen 1933 eben nicht.
Am 7. April 1933 verhängt die Reichsregierung mit dem “Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” und dem „Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“ ein Berufsverbot für jüdische und regimekritische Beamte.
- Etwa 37.000 Menschen verlieren ihre berufliche Existenz.
Nach einer Intervention Hindenburgs werden jüdische Veteranen des Weltkriegs 1914 bis 1918 vom Berufsverbot ausgenommen.
Fünf Jahre später hat sich das geändert.
Wer sich zur deutschen ‘Volksgemeinschaft’ zählt, unterstützt in der Regel auch die systematische Ausgrenzung von Menschen jüdischen Glaubens (oder Herkunft) aus dem sozialen und wirtschaftlichen Leben.
Der Dauerbeschuss aus Goebbels’ Propaganda-Maschinerie und ‘Stürmer’-Hetze zeigen Wirkung: Die meisten Deutschen folgen dem knallharten Abstammungs-Antisemitismus Hitlers und sind bereit, die wilden Verschwörungserzählungen des “Dritten Reiches” zu glauben.
Beschimpfungen, Benachteiligungen und auch Gewalt gegen Juden waren für die meisten zur Normalität geworden.
Die Ökonomie hinter Hitlers Judenhass: Jüdisches Vermögen zur Kriegsfinanzierung
Es sind vor allem Neid, Profitgier und Geld, die den Antisemitismus der nationalsozialistischen Obrigkeit ab 1933 prägen. Hitlers Judenhass und seine Ideologie, die er bereits in ‘Mein Kampf’ mit sämtlichen Folgen beschreibt, spielen zwar auch eine Rolle, aber eine deutlich geringere als häufig vermutet.
Juden werden zu den Sündenböcken stilisiert, die für alles, was schiefläuft, verantwortlich gemacht werden. Aber der eigentliche Grund ist ein anderer.
- Es geht um Geld. Um viel Geld.
Denn man braucht das jüdische Vermögen für das gigantische Rüstungsprogramm, mit dem der bevorstehenden Krieg — längst eine beschlossene Sache — vorbereitet wird. Wohlhabende jüdische Familien und Unternehmer sollen dabei die Rolle des „Ass im Ärmel“ zur Finanzierung von Hitlers Kriegsplänen spielen.
- Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht ist ein erklärter Gegner antijüdischen Boykotte, weil er fürchtet, dass sie der Währungsstabilität der Reichsmark schaden und die Deviseneinnahmen in Gefahr bringen.
Zeitweise werden jüdische Unternehmen ausdrücklich nicht benachteiligt, weil man negative Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben befürchtet.
Zudem sind besonders in der ersten Phase nach der “Machtergreifung” viele Deutsche noch nicht auf Linie; es gibt zwar keinen offenen Widerstand, aber die Unzufriedenheit mit dem nationalsozialistischen Regime ist spürbar. Das Regime ist noch nicht so fest im Sattel, dass es dem “Volk” sein komplettes Arsenal an Radikalität zuzumuten wagt.
Viele, Juden ebenso wie Nicht-Juden, hoffen auf ein baldiges Ende des braunen Spuks.
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„Entjudung“ und die Mobilisierung des „Volkszorns“
Erst im September 1935 fühlt sich das Regime sattelfest genug, um mit den „Nürnberger Gesetzen“ zur Rassentrennung den Druck zu verstärken. Unternehmer jüdischer Herkunft haben nach ihrer Verkündung auf dem Nürnberger Reichsparteitag 1935 keine Option mehr. Viele geben auf, verkaufen ihre Betriebe weit unter Wert oder scheiden aus der Geschäftsleitung aus.
Ab 1937 wird die Ausgrenzung weiter zur existenziellen Bedrohung ausgebaut.
Denn das Regime braucht dringender denn je das jüdische Vermögen zur Finanzierung des längst beschlossenen Zweiten Weltkriegs. Die rechtmäßigen Besitzer dieses Vermögens braucht man nicht.
- Im November 1937 kommt es zwischen Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht und Göring, seit kurzem auch der neuen Beauftragte für den Vierjahresplan, zu einem heftigen Streit über die deutsche Autarkiepolitik.
Hitler lässt die beiden streiten, aber schließlich wirft der eher moderate Schacht hin und wird aus seinem Amt entlassen.
Schachts Ausscheiden macht sich sofort bemerkbar.
Bereits für das Weihnachtsgeschäft 1937 wird ein Boykott gegen jüdische Betriebe und Läden organisiert. Mehr und mehr veränderte sich die Strategie von der schleichenden „Entjudung“ des deutschen Wirtschaftslebens in Richtung Zwangsenteignung.
Die – so „Reichsführer-SS“ Heinrich Himmler – am besten durch Mobilisierung des „Volkszorns“ und Ausschreitungen erreicht werden könne.
Erschütternd aktuell: BAP — Kristallnaach
Wolfgang Niedecken, Autor und Sänger von BAP, siedelt seinen Song in der Gegenwart an (also zu Beginn der 1980er Jahre), in der Neonazis europaweit großen Zulauf haben und wieder salonfähig zu werden drohen – und warnt vor einer Wiederholung der Geschichte. „Neid“, „Profitgier“ und „Geld“ werden im Text als Ursachen von Gewalt und Verfolgung benannt.
In dem 1982 veröffentlichten Lied „Kristallnaach“ heißt es:
https://www.youtube.com/watch?v=NKcu1iMHjJA
Lyrics — Kristallnaach:
https://www.bap.de/songtext/kristallnaach/
Mefo-Wechsel und der Anschluss Österreichs
Zu Beginn des Jahres 1938 geht es großen Teilen der deutschen Bevölkerung wirtschaftlich so gut wie nie, während das Dritte Reich kurz vor der Staatspleite steht.
Das offizielle staatliche Haushaltsdefizit liegt bei zwei Milliarden Reichsmark, tatsächlich fehlen aber 10 Milliarden. Die Möglichkeit zur Schuldenaufnahme stößt an ihre Grenzen und viele der sogenannten Mefo-Wechsel zur Finanzierung der Aufrüstung werden fällig.
Sogar die Kriegsvorbereitungen werden durch die desolate wirtschaftliche Situation im Reich gefährdet.
Um das zu verhindern, übernimmt Hitler persönlich das Oberkommando der Wehrmacht und lässt sie am 4. März 1938 in Österreich einrücken.
Mit dem „Anschluss“ Österreichs vergrößert sich das Reich nicht nur, sondern es kommen auch weitere 192.000 Menschen jüdischer Herkunft zu den noch 350.000 im „Altreich“ verbliebenen.
- Besonders in Wien mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von neun Prozent verstehen viele Hitler-Anhänger die Zeichen aus Berlin falsch und schlagen los: In wochenlangen Ausschreitungen werden jüdischen Ladenbesitzer in unorganisierten Aktionen aus ihren Geschäften geprügelt und von mittelständischen NSDAP-Mitgliedern de facto zwangsenteignet.
Göring tobt angesichts der anarchischen österreichischen Raubzüge.
Das sei schließlich kein „Versorgungssystem untüchtiger Parteigenossen“, poltert er. Der bankrotte NS-Staat braucht das jüdische Geld selbst.
- Ende April 1938 erlässt Göring ein Gesetz, das alle Juden im Reich zunächst zwingt, ihre Vermögensverhältnisse beim Finanzamt detailliert offen zu legen. Das geschätzte Gesamtvermögen von etwa 8,5 Milliarden Reichsmark soll das Haushaltsdefizit verringern und die Beraubten ins Ausland vertreiben.
Für die Deutschen sind alle diese Maßnahmen völlig in Ordnung.
Tillmann Bendikowski berichtet in seinem lesenswerten Buch Hitlerwetter: Das ganz normale Leben in der Diktatur: Die Deutschen und das Dritte Reich 1938/39* dass an einigen Tagen die Hetz-Ausstellung “Der ewige Jude” vorübergehend geschlossen werden muss, weil der Andrang so groß ist.
Die Deutschen besuchen die Ausstellung wohlgemerkt freiwillig — niemand zwingt sie dazu.
Die Konferenz von Evian: Keine Chance für jüdische Flüchtlinge
Auf Betreiben des amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt findet im Juli 1938 im französischen Städtchen Evian eine internationale Konferenz statt, um die Möglichkeiten der Auswanderung von Juden aus Deutschland und Österreich zu verbessern.
- Die europäischen Nachbarn Deutschlands befürchten eine Flüchtlingswelle und versuchen, sie abzuwenden. Jedoch ist keiner der 32 Teilnehmerstaaten von Evian bereit, jüdische Flüchtlinge in größerem Maßstab aufzunehmen.
Die Konferenz scheitert, man trennt sich ergebnislos.
Die Schweiz protestiert stattdessen gegen die drohende „Verjudung“ durch Flüchtlinge aus dem an das Deutsche Reich angeschlossene Österreich und droht mit einer allgemeinen Visumspflicht.
Und auch die Vereinigten Staaten sehen keine Möglichkeit, den jüdischen Flüchtlingen aus Europa Zuflucht zu gewähren.
Sie halten an ihrer normalen Quote von jährlich 27.370 Einwanderern aus Deutschland und Österreich fest.
- Wenig hilfreich ist, dass man in vielen Ländern, allen voran in den USA, Rassendiskriminierung kennt, toleriert oder sogar politisch erlaubt: In den Vereinigten Staaten sind “Neger” — Menschen mit dunkler Hautfarbe — die Bürger 2. Klasse.
“Juden” hatten in den meisten europäischen Staaten kein großes Ansehen.
Viele glauben außerdem, dass die Verfolgung der Juden im Dritten Reich ihren Gipfel bereits erreicht hätte. Was sollte denn jetzt noch kommen? Solidarität mit den Verfolgten gibt es auf dieser Konferenz sehr zur Enttäuschung Roosevelts nicht.
„… Der Botschafter kam dann auf die Judenfrage zu sprechen und sagte, daß sie natürlich von großer Bedeutung für die deutsch-amerikanischen Beziehungen sei. Dabei sei es nicht so sehr die Tatsache, daß wir die Juden loswerden wollten, die uns so schädlich sei, als vielmehr das lärmende Getöse, das wir mit dieser Absicht verbänden. Er selbst habe durchaus Verständnis für unsere Judenpolitik; er stamme aus Boston und dort würden in seinem Golf-Club und in anderen Clubs seit 50 Jahren keine Juden zugelassen.“
US-Botschafter in Großbritannien Joseph P. Kennedy, 1938
Zitiert nach: Robert Harris, Vaterland*
Als im Dritten Reich am 9. November 1938 die Lage eskaliert (wird) und die blutige Jagd beginnt, hält Luxemburg seine Grenzen fest verschlossen und verstärkt die Grenzkontrollen gegen Flüchtlinge.
Der 9. November 1938
Im Oktober 1938, kurz nachdem das Sudetenland mit dem Segen des „Münchner Abkommens“ vermeintlich friedlich „Heim ins Reich“ geholt worden war und Hitler intern die Vorbereitungen für die „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ angeordnet hatte, verkündet Hermann Göring ein weiteres gigantisches Rüstungsprogramm.
Die Privatwirtschaft müsse daran mitwirken, die „Arisierung“ des jüdischen Vermögens sei nun unumgänglich, betont er.
Das Attentat des 17jährigen polnischen Juden Herschel Grynszpan am 7. November 1938 auf den deutschen Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath kommt in dieser Situation gerade recht.
Als vom Rath zwei Tage nach dem Anschlag an seinen Verletzungen stirbt, wird er ebenso schnell wie feierlich zum „Blutzeugen“ erklärt.
- Er ist das Opfer, auf das Hitler und seine Entourage als Beweis für die jüdische Weltverschwörung gewartet haben, um endlich den akribisch geplanten „Volkszorn“ zu entfesseln.
Die Hetzjagd beginnt bereits am späten Nachmittag des 7. November 1938 in Kurhessen und Magdeburg-Anhalt durch Angehörige der SA und SS in Zivilkleidung.
- Zuvor hatte Propagandaminister Joseph Goebbels in einer Rede vor Gauleitern und SA-Führern die „jüdische Weltverschwörung“ für das Attentat verantwortlich gemacht und lobt die „spontanen“, antijüdischen Aktionen, namentlich in Kurhessen und Magdeburg-Anhalt.
Zufrieden notiert er später in seinem Tagebuch, wie die Funktionäre nach seiner Rede „gleich an die Telephone sausten“, um die entsprechenden Anweisungen an die Basis weiterzugeben.
Die Partei wolle nicht als Organisator solcher Aktionen in Erscheinung treten, werde sie aber dort, wo sie entstünden, nicht behindern, verspricht Goebbels.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November beginnen die mehrtägigen Exzesse, bei denen etwa 400 Menschen ermordet oder in den Selbstmord getrieben werden, 1400 Synagogen und Versammlungsräume zerstört, tausende Wohnungen und Geschäfte verwüstet und geplündert werden.
Ab dem 10. November werden 30.000 deutsche Juden (oder jüdischer Abstammung) verhaftet und in Konzentrationslager gebracht.
Hunderte sterben dort oder später an den Folgen der Haft. Unzählige wählen angesichts ihrer ausweglosen Lage den Freitod.
Für die Schäden der „Reichskristallnacht“ fordert man von den jüdischen Gemeinden die Zahlung einer „Sühneleistung“ von 1 Milliarde Reichsmark.
Was kaum jemand ahnt: Der 9. November 1938 ist erst der Anfang.
Copyright: Agentur für Bildbiographien, 2013 (Überarbeitet 2024)
Lesen Sie im nächsten Beitrag: Schläge und Schweigen, verdrängen und neu inszenieren sind die Muster, mit denen die ‘Erziehung mit harter Hand’ von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Über Alice Miller, Hitlers Mitläufer und Mörder und über schwarze Pädagogik, die aus Opfern Täter macht.
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Hitlers Krieg: Kriegswende 1942
Linkempfehlungen:
Ole Löding, „… täglich Kristallnaach“. NS-Vergangenheit und bundesdeutsche Gegenwart in einem Song von BAP (1982), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 9 (2012), H. 1,
https://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Loeding‑1–2012
Bildnachweise:
1. Herschel Grynspan kurz nach seiner Verhaftung am 7. November 1938, Autor: Unknown, Gemeinfrei — https://digitalassets.ushmm.org/photoarchives/detail.aspx?id=31253
2. Boykott der Nationalsozialisten gegen jüdische Geschäfte in Deutschland,
SA — Mitglieder kleben an das Schaufenster eines Berliner jüdischen Geschäfts ein Schilder mit der Aufschrift “Deutsche, wehrt euch, kauft nicht bei Juden” Bundesarchiv, Bild 102–14468 / Georg Pahl / CC-BY-SA 3.0
3. Ausstellung “Der ewige Jude” im Deutschen Museum, 7.–8.11.1937, Bundesarchiv, Bild 119–04-29–38 / CC-BY-SA 3.0
4.Zerstörtes jüdisches Geschäft in Magdeburg, November 1938 Von Bundesarchiv, Bild 146‑1970-083–44 / Friedrich, H. / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5418871
5. Magdeburg, zerstörtes jüdisches Geschäft By Bundesarchiv, Bild 146‑1972-033–39 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5418923
Ich habe einen Großteil des Weltkrieges und die Nachkriegszeit als Kind im Ruhrgebiet mit all seinen Scheußlich- und Schrecklichkeiten erlebt.
Gott sei Dank aber blieb mir das oben Beschriebene wegen der Gnade der
späten Geburt erspart.