Können wir uns auf unser Gedächtnis und unsere Erinnerungen verlassen? Nicht immer. Denn unsere Erinnerungen sind je nach Tagesform beeinflussbar und hängen von unserer Stimmung ab.
Wie wir uns erinnern und warum unser Gedächtnis manchmal so daneben liegt.
Können wir uns auf unser Gedächtnis verlassen?
Nicht immer.
Intuitiv wissen wir das ganz genau, sonst würden wir nicht so viel aufschreiben, egal, ob als Einkaufszettel, Tagebuch oder als Lebens- und Familiengeschichte in Form einer Biografie.
Wir erinnern uns besonders gut an schlechte Erfahrungen
Ein Beispiel.
Nehmen wir mal an, Sie und ich sind Gäste einer großen und eleganten Hochzeitsgesellschaft. Die Sonne strahlt, Braut und Bräutigam sind überglücklich und alle in glänzender Feierlaune.
Nur ich nicht. Während Sie und alle anderen ein wunderbares Fest erleben, kämpfe ich mit einem unangenehmen Fettfleck an einer fiesen Stelle, der mein festliches Outfit und meine gute Laune ruiniert. Irgendwas ist ja immer.
Wir sitzen also bei dieser Hochzeit im gleichen Raum, hören die gleiche Musik und verspeisen das gleiche Hochzeitsmenü, gehen aber mit völlig unterschiedlichen Erinnerungen an dieses Fest nach Haus. Während Sie sich amüsieren, die Tische wechseln, um sich zu unterhalten, tanzen und feiern wie schon lange nicht mehr, sitze ich verkrampft und gelangweilt am Platz, verstecke den Fettfleck unterm Tisch und hoffe, dass niemand mein Malheur bemerkt.
Wer von uns beiden wird sich später besser an diese Feier erinnern?
Keine Frage: Ich!
Sie werden mit den schöneren Erinnerungen nach Hause fahren, aber mir bleibt dieses Fest länger im Gedächtnis.
Der Grund dafür ist, dass jeder Mensch schlechte Erfahrungen und Stimmungen viel besser in seinem Gedächtnis speichert als die guten.
Glaub’ nicht alles, was du denkst. Und auch nicht, woran du dich erinnerst …
Wie wir uns erinnern
In unserer Vorstellung ist unser Gedächtnis eine Art Kommode im Kopf, in deren Schubladen wir unsere Erinnerungen sauber gefaltet stapeln, bis wir sie irgendwann brauchen und wieder hervorkramen.
Diese Annahme ist falsch.
Ebenso falsch wie unsere Auffassung, dass sich alle, die das Gleiche erlebt haben, genau gleich oder zumindest sehr ähnlich daran erinnern. Nicht nur die Polizei hat Schwierigkeiten. wenn sie 10 Zeugen befragt und danach 11 unterschiedliche Täterbeschreibungen hat …
Machen Sie gerne die Probe aufs Exempel und lassen Sie Familie, Freunde oder sonstige Lieblingsmenschen vom Heiligabend 2018 oder einem anderen gemeinsamen Familienevent erzählen.
Sie werden erstaunt sein, was an diesem Tag oder Abend alles passiert sein soll, und sich vielleicht irgendwann fragen, ob Sie überhaupt dabei waren:
„An Heiligabend 2018 gab es wie immer Gänsebraten!“
„Nein, Gans war aus, deshalb gab’s Ente!“
„Quatsch, wir wollten in diesem Jahr kürzertreten. Es gab Würstchen mit Kartoffelsalat!”
Interessant, oder?
Warum wir uns so unterschiedlich erinnern und weshalb es ganz gut ist, sich nicht nur auf sein Gedächtnis zu verlassen, sondern (Beweis-)Fotos zu machen und wichtige Ereignisse aufzuschreiben, ist mittlerweile ziemlich gut erforscht. Denn unser Gedächtnis erinnert sich besonders gut an schlechte Erfahrungen:
Bad news are good news …
Dass schlechte Nachrichten gut fürs Geschäft sind, ist keine neue Erfindung von Zeitungsmachern und Nachrichtenredaktionen. Die nutzen lediglich den Umstand aus, dass wir uns von schlechten Nachrichten stärker beeindrucken lassen als von positiven, und wir von allem Schlechten dieser Welt magisch angezogen werden. Zu allem Überfluss merken wir es uns auch noch besser.
Erinnerungen: Bad news are good news
Unser gutes Gedächtnis für schlechte Erfahrungen ist ein Erbe, das wir genau wie den Blinddarm und Achselhaare den Rückständen unserer Evolution zu verdanken haben: Dass Säbelzahntiger bissig sind und welche Beeren man auf gar keinen Fall essen sollte, war für unsere Ur-Urahnen die (überlebens-)wichtigere Information und hatte deshalb immer mehr Gewicht als die guten Neuigkeiten.
Das ist bis heute so geblieben. Den positiven Erfahrungen in unserem Leben schenken wir prinzipiell weniger Aufmerksamkeit — und außerdem vergessen wir sie schneller.
- Unser Gedächtnis ist also bei weitem nicht so objektiv und sortiert, wie wir’s gerne hätten. Es gibt keine „objektiven“ und unveränderbaren Erinnerungen in unserem Kopf. Wir speichern Erinnerungen unterschiedlich ab und erinnern uns je nach Gemütslage auch unterschiedlich daran.
Deshalb: Glaub’ nicht alles, woran du dich erinnerst!
Glaub’ nicht alles, an das Du Dich erinnerst!
Weil unser Gedächtnis — ebenso wie alles, was wir denken — auf „Finde den Fehler“ ausgerichtet ist, bleibt uns die Familienfeier, bei dem der Kellner das Tablett mit den Desserts fallengelassen hat oder Opa Hermanns Hosennaht hinten geplatzt ist, viel besser in Erinnerung als Feste, bei denen alles glatt gelaufen ist.
- Wenn alles schön war und perfekt lief, speichern wir das unter „war schön“ ab und vergessen es leider – zumindest in großen Teilen – ziemlich schnell wieder.
Wie wir uns erinnern und was wir aus unserem Gedächtnis abrufen können, hängt aber nicht nur von unserer Stimmung damals ab, sondern auch von unserer Gemütslage in dem Moment, in dem wir uns erinnern.
Sind wir gut drauf, fallen uns vor allem schöne Momente und lustige Begebenheiten ein, ist unsere Stimmungslage dagegen eher umwölkt, quillt plötzlich viel Unangenehmes aus unseren Erinnerungs-Schubladen.
- Wer gute Laune hat, dem fallen vor allem schöne Momente ein
- Wer wütend oder traurig ist, wird sich vor allem an weniger schöne Erfahrungen erinnern …
Unser Gedächtnis ist nicht nur wandelbar (plastisch), sondern hat auch eine Tagesform.
Unser trügerisches Gedächtnis: Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht
Ein interessantes Experiment, wie wir unsere Erinnerungen je nach Stimmung einfärben und gewichten, hat der italienische Psychiater Giovanni Fava durchgeführt.
Fava bat einige seiner Patienten, die bei ihm wegen Depressionen in Behandlung waren, ein „Glückstagebuch“ über die schönen Momente in ihrem Leben zu führen. Die meisten seiner Patienten reagierten erstmal verblüfft, weil sie vermuteten, dass sie wegen ihrer Erkrankung keine schönen Momente hätten. Hatten sie aber!
- Selbst in den Phasen tiefster Depression erlebten sie glückliche Momente, wie ihre Tagebücher eindeutig bewiesen. Deshalb gilt Tagebuch schreiben heute als eine der besten Möglichkeiten, um trübe Gedanken loszuwerden; es tut der Psyche gut (Mehr zum Thema Schreiben und Psyche: Das Glücks-Tagebuch)
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Weihrauchöl unterstützt das Gedächtnis und gilt zurecht als „König der ätherischen Öle“. Sein warmer würziger Duft wirkt entspannend und beruhigend und schenkt uns das Gefühl tiefer innerer Ruhe.
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Allerdings vergaßen Favas Patienten ihre glücklichen Erinnerungen gleich wieder oder verfälschten sie durch dunkle Gedanken, die sich sofort nach dem Erleben über ihre positiven Erfahrungen schoben.
Ein Patient berichtete beispielsweise, wie glücklich er war, dass sich seine Familie so sehr über seinen Besuch gefreut hatte. Dieses Glück zerstörte er allerdings im nächsten Moment selbst mit dem Gedanken „sie freuen sich nur über die Geschenke, die ich mitgebracht habe“.
Positive Erinnerungen muss man auch zulassen (können). Und aufschreiben, sobald sie da sind!
Erinnerungen und Selbstsabotage: War früher alles besser?
Unser Gedächtnis ist also weder eine gut sortierte Kommode noch eine unerschütterliche Festplatte. Es ist plastisch, verändert sich ständig und gleicht eher einem wabbeligen Gummibärchen, das sich durch unsere Stimmung je nach momentaner Gefühlslage mal in die eine Richtung und mal in die andere dehnen und ziehen lässt.
Das kann uns ziemlich in die Irre führen, denn unsere Erinnerungen und Erfahrungen machen uns schließlich zu der Persönlichkeit, die wir sind.
Unsere Vergangenheit bestimmt, wie wir uns im Hier und Heute fühlen, welche Entscheidungen wir treffen und wie wir mit anderen interagieren.
- Wer bedrückt ist, dem kommt alles andere auch bedrückend vor — und erinnert sich auch noch in erster Linie an bedrückende Erlebnisse. Darüber sollte man sich im Klaren sein, wenn man auf der Basis seiner Erinnerungen und Erfahrungen Entscheidungen für die Zukunft trifft
Unser Gedächtnis kann uns aber auch in die genau entgegengesetzte Richtung manipulieren und uns ein “früher war alles besser” ins Ohr flüstern, wie es Paul Watzlawick, Psychotherapeut und Kommunikationswissenschaftler, in seinem großartigen Buch Anleitung zum Unglücklichsein* am Beispiel einer schmerzhaften Trennung beschrieben hat:
“… Widerstehen Sie den Einflüsterungen Ihrer Vernunft, Ihres Gedächtnisses und Ihrer wohlmeinenden Freunde, die Ihnen einreden wollen, dass die Beziehung schon längst todkrank war und Sie nur zu oft zähneknirschend fragten, wie Sie dieser Hölle entrinnen könnten.
Glauben Sie einfach nicht, dass die Trennung das bei weitem kleiner Übel ist. Überzeugen Sie sich vielmehr zum x‑ten Male, dass ein ernsthafter, ehrlicher „Neuanfang“ diesmal den idealen Erfolg haben wird. (Er wird es nicht.)
Lassen Sie sich ferner von der eminent logischen Überlegung leiten: Wenn der Verlust des geliebten Wesens so höllisch schmerzt, wie himmlisch muss dann das Wiederfinden sein. Sondern Sie sich von allen Mitmenschen ab, bleiben Sie daheim, in unmittelbarer Nähe des Telefons, um sofort und voll verfügbar zu sein, wenn die glückhafte Stunde schlägt.
Sollte das Warten Ihnen aber doch zu lange werden, dann empfiehlt uralte menschliche Erfahrung das Anknüpfen einer in allen Einzelheiten identischen Beziehung zu einem ganz ähnlichen Partner – wie grundverschieden dieser Mensch anfangs auch scheinen mag.”
Aus: Paul Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein*
Gemeinsame Erinnerungen als Beziehungs-Kitt und Trostspender
Gemeinsame Erlebnisse und Erinnerungen sind der Super-Klebstoff, der Familien, Freundschaften und Paare zusammenhält.
Wir halten unsere Erinnerungen aus guten Gründen wach, denn sie verbinden uns noch mehr miteinander und schenken uns besonders während stressiger Lebensphasen Geborgenheit, weil sie uns daran erinnern, dass wir nicht allein auf dieser Welt sind.
- Die Abweichungen in unseren – gemeinsamen – Erinnerungen sind nicht nur Zündstoff für Diskussionen, sondern können auch ein wunderbarer Aufhänger für neue schöne Erlebnisse und Erinnerungen sein. Beispielsweise indem man sie nutzt, die gemeinsame Geschichte nicht nur zu erzählen, sondern auch auszudiskutieren und aufzuschreiben.
Unsere Erinnerungen können ein Segen sein.
Beispielsweise dann, wenn sie uns daran erinnern, welche Talente wir haben und mit welchen Stärken und Fähigkeiten wir in der Vergangenheit Krisen gemeistert und Schwierigkeiten bewältigt haben.
Aber sie können uns auch direkt in die Sackgasse führen, besonders dann, wenn es uns nicht gut geht:
- Wenn sie uns Positives übersehen lassen — nach dem Motto: Früher war sowieso alles besser
- Wir uns manipulieren lassen, weil wir schöne Erfahrungen wie Giovanni Favas Patienten einfach vergessen
- Wenn wir durch unsere Erinnerungen andere für unser Unglück verantwortlich machen und nie das Experiment wagen, unsere Perspektive zu wechseln, schlechte Erfahrungen loszulassen und dadurch eine positive Veränderung für unser Leben zu ermöglichen
Die in der Vergangenheit geschlagenen Wunden durch allzu eifriges Lecken am Heilen hindern, nennt es Paul Watzlawick. Denn wenn schon unglücklich, dann wenigstens mit den passenden Erinnerungen als unschuldiges Opfer:
“… Was uns Gott, Welt, Schicksal, Natur, Chromosomen und Hormone, Gesellschaft, Eltern, Verwandte, Polizei, Lehrer, Ärzte, Chefs oder besonders Freunde antaten, wiegt so schwer, dass die bloße Insinuation, vielleicht etwas dagegen tun zu können, schon eine Beleidigung ist.“
Aus: Paul Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein*
Copyright: Agentur für Bildbiographien, www. bildbiographien.de, 2023 (überarbeitet 2024)
Lesen Sie im nächsten Beitrag: Schöne Düfte machen uns glücklich. Und sie sind der kürzeste Weg von der Außenwelt zu unserem Gehirn. Der Weg zwischen Nase und Hirn ist die schnellste und kürzeste Nervenverbindung zu unseren Gedanken, Gefühlen … und unseren Erinnerungen. Über die ‘Kraft der feinen Düfte’ und wie wir sie gezielt für Erinnerungen und Gedächtnis einsetzen können.
Die Kraft der feinen Düfte
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Unser trügerisches Gedächtnis: Die Rechtspsychologin Julia Shaw in ihrem sehr lesenswerten Buch über Erinnerungen, auf die wir uns verlassen können. Und über die, an die wir uns ‘falsch’ erinnern.
Julia Shaw: Das trügerische Gedächtnis*, Heyne Verlag, Januar 2018
Paul Watzlawicks Klassiker für’s Glücklichsein. Ein wunderbares Buch, in dem man sich (leider) sehr oft wiedererkennen kann. Viele “Aha”-Erlebnisse, aber auch ein echtes Lesevergnügen.
Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein*, Piper, 2021
Caravaggio übers Impfen und die alten Meister der Renaissance über Homeoffice, Hamsterkäufe und Abstandsregeln …
Humor ist bekanntlich, wenn man trotzdem lacht. Und glücklicherweise können wir wieder lachen — zumindest über Pandemie & Co. Zum Beispiel mit diesem kleinen Meisterwerk von Wolfgang Luef. Ein zauberhaftes kleines Buch, bestens geeignet, um sich selbst oder anderen eine Freude zu machen.
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