Das Genovese-Syndrom: Zuschauen kann töten

Der Zuschaeureffekt: Zuschauen kann töten www.generationengespräch.de

Das Geno­ve­se-Syn­drom: Im März 1964 wird eine jun­ge Frau mit­ten in einem Wohn­vier­tel des New Yor­ker Stadt­teils Queens bru­tal über­fal­len und ermor­det.

Wie die Poli­zei spä­ter ermit­tel­te, hät­te Cathe­ri­ne Sus­an – „Kit­ty“ – Geno­ve­se über­le­ben kön­nen, vor­aus­ge­setzt, ein ein­zi­ger der 38 Zeu­gen des Über­falls hät­te ein­ge­grif­fen oder wenigs­tens die Poli­zei gerufen.

Der Mord an Kitty Genovese

In den frü­hen Mor­gen­stun­den des 13. März 1964 wur­de die 28jährige Cathe­ri­ne Sus­an Geno­ve­se, genannt Kit­ty, auf dem Weg von ihrem Auto zu ihrer nur drei­ßig Meter ent­fern­ten Woh­nungs­tür bru­tal über­fal­len und ermordet.

Soweit sich die Tat spä­ter rekon­stru­ie­ren ließ, griff ihr Pei­ni­ger Win­s­ton Mose­ley sie von hin­ten an.
Er stach mit einem Mes­ser auf sie ein und ver­such­te, sie zu ver­ge­wal­ti­gen.
Kit­ty Geno­ve­se schrie laut um Hil­fe, doch obwohl eini­ge Men­schen in den umlie­gen­den Häu­sern ihre Schreie hör­ten, reagier­te niemand.

Ein Nach­bar öff­ne­te schließ­lich ein Fens­ter und frag­te, was los sei, wor­auf­hin Mose­ley von Kit­ty abließ und davonlief.

Kit­ty ver­such­te, sich zu ihrer nahe gele­ge­nen Woh­nung zu schlep­pen.
Hil­fe bekam sie nicht: Da sie außer­halb der Sicht­wei­te der Beob­ach­ter des Über­falls war, fühl­te sich auch jetzt nie­mand ver­an­lasst, die Poli­zei zu verständigen.

Ande­re Nach­barn beob­ach­te­ten, wie Mose­ley in sei­nen Wagen ein­stieg und davon­fuhr, dann aber fünf Minu­ten spä­ter zurück­kam.
Er such­te den Appar­te­ment­kom­plex sys­te­ma­tisch ab und folg­te der Blut­spur sei­nes Opfers.
Kit­ty lag – kaum noch bei Bewusst­sein – in einem Flur auf der Rück­sei­te des Gebäudes.

Mose­ley fand Kit­ty, ver­ge­wal­tig­te sie, raub­te sie aus und stach ins­ge­samt noch acht Mal auf sie ein.

Schließ­lich ließ er von ihr ab und flüch­te­te, ver­mut­lich auf­ge­schreckt durch die Sire­nen der sich nähern­den Poli­zei­au­tos, die unter­wegs waren, nach­dem sich ein Nach­barn wäh­rend des zwei­ten Angriffs dann doch ent­schlos­sen hat­te, die Poli­zei zu rufen.

Kit­ty Geno­ve­se starb an ihren schwe­ren Ver­let­zun­gen auf dem Weg ins Kran­ken­haus.
Ihr Mar­ty­ri­um hat­te drei­ßig Minu­ten gedau­ert und war in ver­schie­de­nen Abschnit­ten von ins­ge­samt 38 Zeu­gen beob­ach­tet oder gehört worden.

Schlechte Vorbilder das Genovese Syndrom Generationengespräch

I didn’t want to get involved

Der Über­fall und sei­ne Begleit­um­stän­de lös­ten in den USA bei vie­len Men­schen tie­fes Ent­set­zen und Erschre­cken aus.
Kit­ty Geno­ve­ses Ermor­dung wur­de für vie­le sehr schnell zu einem Bei­spiel für die Gefühls­käl­te und Apa­thie der Groß­stadt­be­woh­ner gegen­über der Not anderer.

Geför­dert wur­de die­se Inter­pre­ta­ti­on nicht zuletzt durch einen Arti­kel in der New York Times von Mar­tin Gans­berg, der zwei Wochen nach dem Über­fall erschien. Er trug die rei­ße­ri­sche Schlag­zei­le: THIRTY-EIGHT WHO SAW MURDER DIDN’T CALL THE POLICE
(„38 sahen den Mord und rie­fen nicht die Polizei“) 

I didn't want to get involved Aussage eines Zeugen nach dem Mord an Kitty Genovese Generationengespräch

Die öffent­li­che Mei­nung wur­de durch ein Zitat aus dem Arti­kel geprägt, das einen unbe­kann­ten Nach­barn wie­der­gibt: „I did­n’t want to get invol­ved” („Ich woll­te nicht dar­in ver­wi­ckelt werden“). 

Der Arti­kel beginnt mit den Wor­ten „Mehr als eine hal­be Stun­de lang sahen 38 ehr­ba­re, geset­zes­treue Bür­ger in Queens einem Kil­ler dabei zu, wie er eine Frau ver­folg­te und nie­der­stach …“.

Das ist dra­ma­tisch for­mu­liert, aber nicht kor­rekt, denn kei­ner der Zeu­gen hat­te den gesam­ten Tat­her­gang beob­ach­tet; für alle Augen- und Ohren­zeu­gen war und blieb die Situa­ti­on, die sie in Aus­schnit­ten mit­be­ka­men, unklar.

Kit­ty Geno­ve­se hat­te mehr­fach ver­sucht, ihrem Angrei­fer zu ent­kom­men und dabei ihre eige­ne Posi­ti­on ver­än­dert, so dass ihre Not­la­ge für die Augen­zeu­gen nicht klar erkenn­bar war.

Die meis­ten Zeu­gen hör­ten zwar Tei­le des Über­fal­les, konn­ten aber den Ernst der Lage nicht ein­deu­tig erken­nen. Eini­ge glaub­ten, ein strei­ten­des Lie­bes­paar gehört zu haben.

Weni­ge sahen einen klei­nen Teil des anfäng­li­chen Über­grif­fes. Nie­mand beob­ach­te­te den zwei­ten Angriff im äuße­ren Flur, der Kit­ty Geno­ve­se schließ­lich das Leben kostete.

Doch trotz aller Erklä­rungs­an­sät­ze blieb die Tat­sa­che, dass immer­hin 38 Men­schen das Gefühl hat­ten, eine Sze­ne beob­ach­tet oder gehört zu haben, die „nicht in Ord­nung“ war.

Den­noch leis­te­te nur ein ein­zi­ger Zeu­ge schließ­lich Hil­fe und ver­stän­dig­te die Polizei.

Unterlassene Hilfeleistung durch Vorbilder

Men­schen suchen sich ande­re Men­schen als Vor­bil­der und ahmen deren Ver­hal­tens­wei­sen nach, wenn sie in schwie­ri­gen oder unkla­ren Situa­tio­nen mit ihrem eige­nen Ver­hal­tens­re­per­toire nicht mehr wei­ter­kom­men.

Das ist in der Regel ein sehr nütz­li­cher Mecha­nis­mus, der dem lebens­lan­gensozia­len Ler­nen dient. In eini­gen Fäl­len kann die­ses Ver­hal­ten aller­dings fata­le Fol­gen haben — töd­li­che  für das Opfer.

Der Über­fall auf Kit­ty Geno­ve­se lös­te aber nicht nur eine Wel­le des Ent­set­zens aus; in den fol­gen­den Jah­ren such­te man auch inten­siv nach einer psy­cho­lo­gi­schen Erklä­rung dafür, dass nur ein ein­zi­ger Zeu­ge dem Opfer schließ­lich doch noch gehol­fen und die Poli­zei geru­fen hatte.

Die Situa­ti­on war für alle Augen- und Ohren­zeu­gen unklar, kei­ner konn­te das Ver­bre­chen ein­deu­tig sehen und ein­ord­nen. Sehr bald kam die Fra­ge nach den Vor­bil­dern auf — die Fra­ge, ob sich die Zeu­gen gegen­sei­tig an ihrer Unsi­cher­heit und Untä­tig­keit ori­en­tiert haben könn­ten, schlicht­weg also, ob zu vie­le den Über­fall gese­hen oder gehört und sich in ihrem Nich­st­tun ver­stärkt hatten.

Fal­sche Vor­bil­der: Alle war­ten auf die Reak­ti­on der anderen.

Um den erschre­cken­den Umstän­den des sinn­lo­sen Todes Kit­ty Geno­ve­ses auf die Spur zu kom­men, wur­den in den fol­gen­den Jah­ren zahl­rei­che Unter­su­chun­gen durch­ge­führt, in denen eine Not­si­tua­ti­on vor den Augen unter­schied­lich vie­ler Beob­ach­ter (Pro­ban­den) vor­ge­täuscht wurde.

Das Ergeb­nis aller Unter­su­chun­gen stell­te alle Annah­men, die man bis dahin hat­te, von den Füßen auf den Kopf: Eine Per­son in Not erhält signi­fi­kant häu­fi­ger Hil­fe, wenn nur ein ein­zi­ger Beob­ach­ter anwe­send ist. Je mehr Zeu­gen und damit poten­zi­el­le Hel­fer die Not­si­tua­ti­on beob­ach­ten, des­to gerin­ger ist die Chan­ce auf Hil­fe.

Die­ses Phä­no­me bezeich­net man heu­te als Ver­ant­wor­tungs­dif­fu­si­on.

Keine Hilfe bei zu vielen möglichen Helfern

Den Ein­fluss der ande­ren auf das eige­ne Ver­hal­ten in einer unkla­ren Situa­ti­on kann bei­spiels­wei­se mit der soge­nann­te „Rauch­stu­die“ gezeigt werden: 

Die “Rauch­stu­die”:
Bei die­sem Expe­ri­ment gibt es drei ver­schie­de­ne Ver­suchs­an­ord­nun­gen.
- Ver­such 1: Ein Pro­band sitzt allei­ne in einem Raum, in den Rauch ein­ge­lei­tet wird.
- Ver­such 2: Drei Pro­ban­den sind im Raum,
- Ver­such 3: Eben­falls drei Per­so­nen sind im Raum, aller­dings sind zwei von ihnen ein­ge­weih­te Stroh­män­ner mit der Vor­ga­be, kei­nes­falls auf das Ein­drin­gen des Rau­ches zu reagie­ren. Der eigent­li­che Pro­band kennt die­se Abspra­che nicht.

Das Ergeb­nis:
- 75 Pro­zent der allein im Raum Sit­zen­den mel­de­ten den Rauch (Ver­such 1).
- Waren alle drei Ver­suchs­per­so­nen glei­cher­ma­ßen unvor­be­rei­tet, schlu­gen noch 38 Pro­zent der Pro­ban­den Alarm (Ver­such 2).
- Saßen neben der ein­zi­gen ‘ech­ten’ Ver­suchs­per­son auch die bei­den ein­ge­weih­ten „Stroh­män­ner“ im Raum, die den Rauch bewusst igno­rier­ten, lie­ßen sich die ech­ten Pro­ban­den von der Untä­tig­keit der bei­den ande­ren irri­tie­ren. Nur noch 10 Pro­zent wie­sen auf den Rauch hin (Ver­such 3).

Das Vor­bild­ver­hal­ten der “Stroh­män­ner” in Ver­such 3 hat einen enor­men Ein­fluss auf die Reak­ti­on der unein­ge­weih­ten Ver­suchs­per­son. Da die ande­ren so tun, als ob sie den Rauch nicht bemerk­ten oder er nichts Unge­wöhn­li­ches wäre, wird er auch von 90 Pro­zent der unein­ge­weih­ten Pro­ban­den ignoriert

Ech­te Not­fall­si­tua­tio­nen tre­ten glück­li­cher­wei­se sel­ten auf.
Für Zeu­gen kom­men sie daher über­ra­schend; die meis­ten Men­schen sind nicht dar­auf vor­be­rei­tet, wis­sen nicht, wie sie einen ech­ten Not­fall ein­schät­zen sol­len und wel­ches Ver­hal­ten ange­bracht ist.

  • Befin­det sich ein Zeu­ge allein in einer sol­chen Situa­ti­on, wird er sie genau ana­ly­sie­ren und sein Ver­hal­ten am Ergeb­nis die­ser Ana­ly­se aus­rich­ten. In vie­len Fäl­len führt die Ver­ant­wort­lich­keit eines ein­zel­nen zu rascher und geziel­ter Hil­fe für das Opfer.
  • Sind dage­gen meh­re­re Zeu­gen anwe­send, führt die sub­jek­ti­ve Unsi­cher­heit jedes Ein­zel­nen dazu, dass er sich am Vor­bild der Ande­ren aus­rich­tet. Weil sich alle Zeu­gen gegen­sei­tig zum Vor­bild neh­men, kommt es zum Phä­no­men der Ver­ant­wor­tungs­dif­fu­si­on: Alle war­ten auf die Reak­ti­on der anderen.

Und da häu­fig nie­mand etwas tut, bleibt Hil­fe oft aus.

Fazit: Men­schen in einer Not­si­tua­ti­on soll­ten so gut es ihnen mög­lich ist die Ver­ant­wor­tungs­dif­fu­si­on auf­lö­sen und einen der ‚Bystan­der‘ kon­kret um Hil­fe bit­ten.
Umge­kehrt soll­ten Men­schen, die sich nicht sicher sind, ob sie gera­de Zeu­ge einer Not­si­tua­ti­on wer­den, mit­ein­an­der kom­mu­ni­zie­ren – und im Zwei­fels­fall lie­ber ein­mal zu viel als ein­mal zu wenig Hil­fe leisten.

Kit­ty Geno­ve­se hät­te ver­mut­lich eine Chan­ce gehabt. Vor­aus­ge­setzt, nur ein ein­zi­ger Zeu­ge hät­te den Über­fall auf sie beob­ach­tet und nicht mehrere.

Copy­right: Agen­tur für Bild­bio­gra­phien, www​.bild​bio​gra​phien​.de, 2015 (über­ar­bei­tet 2024) 

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