von Romy Anna Erb
Ich schrie Mama an, aber sie hörte nicht auf mich.
„Ich will aber nicht! Ich habe Angst!“
„Doch, du sollst!“
Mama war so fies.
Hey, haltet mich nicht für ein Weichei!
Ja, ich schlafe noch mit Nachtlicht.
Und?
Aber genau heute habe ich keines. Und Mama und Papa sind nicht da.
Verdammt!
Mama sagte auch, dass ich meine Nachttischlampe nicht anlassen darf und die Tür schließen soll.
„Sonst wecken wir dich, wenn wir aus dem Theater kommen.“
Und genau heute hatte mein kleiner Bruder Lucci mein Nachtlicht geschrottet.
Also ging ich abends in mein Zimmer und machte alle Lichter aus.
Genau heute vor einem Monat hatte ich Geburtstag gehabt. Alle meine Kumpels hatten damals bei mir übernachtet, und keiner fand es schlimm, dass ich noch mit Nachtlicht schlief.
Oh, da war es wieder.
Das knarzende Geräusch. An meinem Geburtstag war es auch da gewesen. Kam es mir nur so vor, oder war es dieses Mal lauter?
An meinem Geburtstag hat es irgend- wann aufgehört. Aber heute?
Es wurde immer lauter.
Plötzlich zersplitterte das Fenster und 100 Krähen flogen in mein Zimmer.
Sie stürzten sich auf mich. Meine Hände fingen an zu kribbeln. Dann fiel ich in Ohnmacht.
Als ich zu mir kam, saß ich in einem dunklen Gang. Meine Finger und Hände waren voller Federn. Ich versuchte sie abzukriegen, aber sie waren wie festgeklebt. Ich stand auf und tastete mich langsam vorwärts. Alles dunkel. Ich hätte heulen können.
Ich habe Angst vor der Dunkelheit. Und damit meine ich nicht einfach Angst. Eher Panik.
Langsam ging ich weiter. Krähen kamen mir entgegen geflogen. Ich duckte mich, und zum Glück bemerkten sie mich nicht.
Endlich sah im ganz am Ende des Ganges Licht. Ich rannte! Ich wollte so schnell wie möglich raus. Als ich fast angekommen war, sah ich einen riesigen Saal aus schwarzen und roten Steinen. Ich weiß nicht wieso, aber ich fühlte mich heimisch.
Am Ende des Saales stand ein Mann. Ich ging zu ihm hin.
„Hallo mein Kind, ich freue mich, dich zu sehen! Ich hoffe, meine Krähen waren nicht zu ruppig zu dir.“
„Nein, äh, doch, ich meine …“
Weiter kam ich nicht. Alles war wieder schwarz, und plötzlich saß ich in einem Labor. Ich sah, wie mir Blut abgenommen und ein Stempel auf meine Haut gedrückt wurde.
Licht.
Hell, Puh, nächster Morgen. Uff, das war alles nur ein Traum. Ich versuchte, mich zu sammeln. Mein Gott, ich hatte noch nie einen so schrecklichen Albtraum. Ich machte mich fertig und ging nach unten.
„Hi, Mama!“
„Guten Morgen, mein Schatz. Na, hast du gut geschlafen?“
„Ja, aber ich hatte einen Albtraum.“
„Wovon hast du denn geträumt?“
„Ach, irgendwas mit Krähen und Blut.“
Meine Mutter wurde blass. „Ach Schatz, vergiss es einfach. Albträume sollte man am besten vergessen. Du kommst zu spät zur Schule“, sagte sie und wirkte dabei sehr durcheinander.
In der Schule überlegte ich mir die ganze Zeit, warum meine Mutter plötzlich so nervös gewesen war.
Mein Kumpel Tobias war ziemlich schnell genervt von meinen Grübeleien.Tobias ist ein echter Draufgänger, er überlegt nicht, sondern macht. Kein Wunder, er will ja auch unbedingt Fußballprofi werden.
Mir macht Nachdenken Spaß.
Ich liebe das Mystische und denke mir oft Geschichten aus. Später will ich Schriftsteller werden, und alle Geschichten aufschreiben und veröffentlichen. Aus meinem Albtraum mit den Krähen werde ich bestimmt auch eine Geschichte basteln.
„Cool, was ist das denn? Woher hast du das Tattoo?“, fragte Tobias.
„Was für ein …?“
Und dann sah ich es.
Ich hatte so ein komisches Krähen-Tattoo auf meinem Handrücken, genau so eines wie in meinem Traum. Jetzt sah ich auch die Einstichstelle vom Blutabnehmen.
„Äh, ach nur so ein Tattoo aus einem Überraschungsei, nichts Besonderes“, sagte ich.
Ich hatte Angst, dass mich die anderen Jungs wegen meines Traumes für ein Weichei halten würden.
Als ich am Abend in mein Zimmer gehen wollte, hörte ich die Stimmen meiner Eltern aus dem Schlafzimmer.
„Er hat seine Drohung wahr gemacht“, schluchzte meine Mutter.
„Es wird alles auffliegen!“
Die Stimmen wurden leiser.
Als ich in meinem Bett lag, dachte ich noch eine Weile nach. Ich hatte keine Angst, denn heute hatte ich wieder mein Nachtlicht. Ein bisschen mulmig war mir aber schon.
Auf einmal begann mein Nachtlicht zu flimmern. Es ging aus.
Ich hörte wieder das Knarzen. Und dann waren sie wieder da.
Mein Zimmer war voller Krähen.
Dieses Mal fiel ich nicht in Ohnmacht, sondern wurde selbst zu einer Krähe.
Ich sah, wie ich mit den anderen Krähen davonflog. Wir flogen zum Palast aus meinem Traum, und dort verwandelte ich mich zurück. Der Mann stand wieder da, und ich sah, wie ich auf ihn zuging.
„Gefällt es dir?“, fragte er mich.
„Was?“
„Das Tattoo. Ich dacht mir, dass deine Lieblingsfarben immer noch Blau und Schwarz sind.“
„Das waren sie eigentlich nie.“
„Oh, deine Mutter hat ja ganze Arbeit geleistet! Los, du musst noch viel lernen. Lass uns beginnen.“
Ich wurde wieder zur Krähe und die anderen nahmen mich in ihre Mitte.
Zunächst übten wir das Fliegen, später brachten sie mir Krähen-Manieren bei, die zu Hause wahrscheinlich nicht angebracht gewesen wären.
Auf einmal war alles vorbei, es war wieder Morgen.
Wieder wurde meine Mutter blass, als ich ihr von meinem Traum erzählte, und wieder einmal überlegte ich, warum. Ich hörte meine Eltern leise über mich und meinen Traum reden. Aber dieses Mal war es anders, denn ich war mir sicher, dass es kein Traum war.
Ein Jahr lang wurde ich von den Krähen unterrichtet.
Meine Eltern machten sich immer mehr Sorgen um mich. Aber dafür gab es gar keinen Grund.
So komisch es klingt, es gefiel mir. Das Fliegen machte mir Spaß und ich freundete mich mit vielen von ihnen an.
Endlich wurde ich von allen respektiert – in der Schule war eigentlich nur Tobias mein Freund. Krähen sind nicht böse, wie immer alle glauben. Es gab irgendeinen Vorfall, der dieses Vorurteil in die Welt gesetzt hatte. Was das war, wollten mir die Krähen aber nicht verraten.
Ich wusste, dass ich die Antwort nur vom Krähen-Mann bekommen konnte. Ich fragte ihn, aber er antwortet nur:
„Du hast bestimmt schon viel über Krähen gelesen?“
„Ja!“
„Und du hast nie etwas darüber gefunden, oder?“
„Nein.“
„Siehst du? Vermeide Informationsquellen, die jeder lesen kann. Such‘ etwas Persönliches!“
Ich dachte sofort an den Keller.
Ich bin noch nie dort gewesen, es ist dort so dunkel.
Aber seit ich bei den Krähen bin, habe ich keine Angst mehr.
Im Keller fand ich eine paar Fotoalben. Hinter den anderen versteckt, war noch ein ganz staubiges.
„Natürlich finde ich hier Antworten“, dachte ich mir.
Ich schlug das Staubige auf. Und tatsächlich. Auf einem der Fotos war ein Hochzeitspaar zu sehen.
Meine Mutter und der Krähen-Mann.
Auf einem anderen Bild waren meine Mutter, der Krähen-Mann und ein Baby zu sehen.
Konnte es wirklich sein, dass ich …?
Ich stürmte zu meiner Mutter und fragte sie nach den Fotos. Sie wurde blass, fing an zu zittern und setzte sich auf einen Stuhl.
„Ja, es stimmt. Er ist dein Vater. Er hat uns verlassen und sich nie wieder blicken lassen. Er hat …“, ich unterbrach sie:
„Du hast mir einfach meinen wirklichen Vater verschwiegen?“
Ich schrie. „Du hast mir einen fremden Mann als Vater untergejubelt. Ich fasse es nicht!“
„Ich wollte, dass du eine schöne Kindheit hast. Ich wollte, dass du eine richtige Familie hast und nicht so einen Versager als Vater“, sagte meine Mutter leise.
Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und der Krähen-Mann stand im Flur.
„Das ist eine Lüge“, donnerte er. „Du hast mich im Stich gelassen! Wir haben geheiratet und alles war perfekt! Keiner wusste, dass ich nicht nur Mensch, sondern auch Krähe bin. Aber du mit deiner ständigen Panik, dass unser Sohn auch Krähe sein könnte.“
Er weinte.
„Ich habe meinen Sohn geliebt und wollte ihn nicht verlieren. Du hast mich verlassen! Du hast ihm beigebracht, sich im Dunklen zu fürchten! Du hast ihm beigebracht, dass Krähen Unheilsbringer sind und Schwarz eine böse Farbe ist. Aber ich konnte meinen einzigen Sohn nicht vergessen, und wollte es auch nicht. Denn er wird mein Nachfolger werden, und ich bin gekommen, um ihn zu holen.“
Ich wusste nicht, auf wen ich hören sollte. Meine Mutter war immer für mich da, aber sie hatte mich belogen.
Mein Vater hatte mir die Angst vor der Dunkelheit genommen, aber er ist spät gekommen. Zu spät?
Plötzlich standen mein Stiefvater und Lucci in der Tür. Man spürte den Hass zwischen den beiden Männern.
Alles stand still.
Dann holte mein Vater aus und verpasste meinem Stiefvater einen Kinnhaken. Die beiden fingen an, aufeinander einzuschlagen.
Mama schnappte nach meinem Arm und zerrte mich und Lucci zum Auto. Wir stiegen ein und fuhren los. Mein Vater kam aus dem Haus gerannt, seine Hände waren blutverschmiert.
„Komm‘ zu mir zurück“, schrie er. Er weinte.
Er sah das Auto hinter ihm nicht. Ich sah, was kommen musste, aber es war zu spät. Das Auto erfasste ihn, schleuderte ihn in die Luft, und mit einem dumpfen Aufprall fiel er auf die Straße, wo er reglos liegen blieb.
Meine Mutter gab Gas.
„Lass‘ uns das alles vergessen“, weinte sie.
„Nein“, schrie ich. „Ich will nicht vergessen! Ich will den Platz meines Vaters einnehmen.“
Ich verwandelte mich in eine Krähe und flog davon.
Aus der Ferne hörte ich einen lauten Knall. Mamas Auto war gegen einen Baum geprallt.
Ich war unsäglich traurig. Jetzt war ich ganz allein auf der Welt.
Plötzlich hörte ich ein Knarzen hinter mir und drehte mich um.
„Lucci?“
Unsere Crime-Lady Romy Anna Erb ist 12 Jahre alt und besucht die sechste Klasse einer Gemeinschaftsschule in Schleswig-Holstein.
Ihre Krähen-Geschichte ist im Rahmen eines Deutschprojektes entstanden.
Wir hoffen, dass man noch einiges von ihr hören (und lesen) wird, auch wenn sie ihren Namen weder in Edgar Allen noch in Poe ändern möchte.
Copyright: Romy Anna Erb, Agentur für Bildbiographien, www.bildbiographien.de, 2015 (überarbeitet 2024)
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Eigentlich waren wir zu viert. Obwohl Melissa nie so richtig dazu gehörte. Es war einfach nicht die Zeit für Melissa, mit ihren lackierten Fingernägeln, rasierten Beinen und schicken Klamotten. Richtig eng befreundet war ich mit Monika, gelernte Erzieherin, die gerade Therapie machte und Brigitte, die BWL studierte. Ich war frisch geschieden und hatte in der Zeit beim Axel-Springer-Verlag festgestellt, dass weder dieser Verlag noch meine Sekretärinnentätigkeit mit meiner politischen Weltanschauung in Einklang zu bringen war und ich außerdem die Nase voll hatte, von den ganzen Anzugmännern.
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