Von Christian Mack
Heute, für ein Menschenleben unendlich lange erscheinende 100 Jahre später, findet der Erste Weltkrieg zum „Jubiläum” wieder Beachtung.
Dabei gibt es ein Problem: Die Lebenswelt der Menschen vor 100 Jahren ist uns fremd geworden …
… und somit auch die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts” (George F. Kennan).
Der Zweite Weltkrieg scheint uns dagegen lebendig: An Hollywoodfilmen oder Fernsehdokumentationen zum Thema herrscht kein Mangel, ebenso wenig an Zeitzeugen.
Mit dem Ersten Weltkrieg sieht es da etwas anders aus: Wie war das damals?
Hilfreich: Spätgebärende Vorfahren
Doch, ich habe „Glück”.
Meine Eltern (Jahrgang 1948) waren relativ alt als sie mich (Jahrgang 1984) in die Welt setzten. Mein Opa väterlicherseits wiederum war noch älter, als er – lang davor – meinen Vater in ebendiese Welt setzte.
Das bedeutet: Mein Opa, Franz Mack, war dabei.
Dabei im Schützengrabenkrieg des Ersten Weltkriegs an der Westfront. Mittendrin in der Scheiße, im Blut und den Gedärmen, dem Giftgas und den Schreien der Sterbenden, im Maschinengewehrhagel und im Artilleriedonner des Ersten Weltkrieges.
Erzählt hat er davon vermutlich nie, wie es für die Kriegsgenerationen aus beiden Weltkriegen üblich war.
Jedenfalls weiß ich darüber nichts.
Geboren 1894 in Nürnberg, 90 Jahre vor meiner eigenen Geburt, war Opa Franz ein junger Mann von 20 Jahren, als er in den Krieg ging.
Gestorben ist er 1981, drei Jahre vor meiner Geburt. Opa Franz kenne ich also nur aus Erzählungen und von alten Fotos.
Und von Feldpostkarten.
Feldpostkarten, die er zwischen 1915 und 1917 aus Frankreich nach Hause geschickt hat.
Erster Weltkrieg — 90 Jahre danach
Lesen konnte ich diese Karten aber nie.
Denn sie sind in Sütterlin geschrieben, womit ich mich bis heute äußerst schwer tue.
Fasziniert haben mich die alten Karten, die Oma in einem ebenso alten und seltsam angenehm-modrig riechenden Album gesammelt hatte, schon immer.
Die Schwarz-Weiß-Fotografien zerstörter Ortschaften mit brennenden Kirchturmrspritzen, die inszenierte Schützengrabenromantik, die etwa eine Gruppe Soldaten bei der Morgentoilette zeigt, oder die bunt gemalten Propaganda-Witzchen, wo beispielsweise ein deutscher Pickelhauben-Soldat als Sinnbild für den Zweifrontenkrieg an zwei Tischen gleichzeitig Skat gegen andere Nationen spielt – und selbstverständlich gewinnt.
Einen ersten, im Nachhinein betrachtet sehr gelungenen Versuch der Aufarbeitung von Opas Kriegsalbum, hat vor zehn Jahren mein Vater unternommen.
Auch er brauchte wohl ein „rundes Jubiläum” dafür und so machten meine Eltern, mein Bruder und ich uns 2004 auf nach Frankreich.
An die Schauplätze der Feldpostkarten von Opa, zur „Tour de Franz”, wie es mein Vater nannte.
Mein Vater war es auch, der die Reise anhand der Feldpost seines Vaters akribisch im stillen Kämmerlein ausgetüftelt hatte. Er hatte wohl auch angefangen, die eine oder andere Postkarte zu „übersetzen”. Allerdings ging es ihm wahrscheinlich eher um die Gefechts- und Aufenthaltsorte seines Vaters, als um die Schützengraben-Korrespondenz von Opa Franz an sich.
Die “Tour de Franz”
Ich weiß noch, dass diese Reise damals schon Eindruck bei mir hinterlassen hatte: Ich war – wie Opa Franz 90 Jahre zuvor – 20 Jahre alt, als ich an den Schauplätzen der Vergangenheit stand.
Als ich in Waldstücken und Äckern immer noch die Wirkung der Artillerie in Form von tiefen Kratern sehen konnte, obwohl die Kanonen seit 90 Jahren verstummt waren.
Obwohl nach zwei Weltkriegen die Narben der Vergangenheit in der Eurozone längst verheilt schienen und aus „Erbfeinden” friedliche Nachbarn geworden waren.
Die Unendlichkeit der so genannten „Heldengräber”, die wir auf der „Tour de Franz” ebenso besuchten wie Festungen und Museen, machten Eindruck auf mich. Soweit das Auge reichte weiße Grabkreuze mit Namen gefallener Soldaten. Franzosen und Deutsche.
Alle in dem Alter in dem ich damals war.
Alle in dem Alter, in dem Opa vor jetzt genau 100 Jahren war, als er in den Krieg zog.
Die vom Krieg unversehrte Familie Mack
Weitere zehn Jahre, den Tod des eigenen Vaters und ein weiteres „Jubiläum” hat es seit der „Tour de Franz” für mich gebraucht, bis ich mich erneut für Opas Postkarten interessiert habe.
Vor gut einem Jahr fielen sie mir noch einmal in die Hand und ich stellte fest: Anders als in vielen anderen deutschen Familien, kehrten die Söhne der Macks allesamt von der Front zurück.
Für Opa Franz war der Krieg am 8. Mai 1917 vorbei, als er von einem oder mehreren Granatsplittern aus deutscher Artillerie in den Rücken getroffen wurde.
Die nächsten 16 Monate musste er im Lazarett verbringen, wo er in zwei Operationen wieder zusammengeflickt werden musste.
Dieser „Heimatschuss”, ironischerweise tatsächlich aus „heimischen” Kanonen abgefeuert, brachte ihm zeitlebens eine Behinderung von 70 Prozent ein.
Soweit ich weiß, muss einer der Granatsplitter seine Blase erwischt haben, weshalb er sein Leben lang Probleme beim „Wasser lassen” hatte.
Opas Feldpost brachte aber auch Erkenntnisse über die Familienstruktur der Macks.
Anders als bei meinen Verwandten mütterlicherseits, die einen sehr engen Kontakt untereinander pflegen, kann ich die verworrenen Wurzeln des Mackschen Familienstammbaums bislang noch nicht so recht entwirren.
Opa twittert aus dem Schützengraben
Im Februar 2015 ist Opa Franz wieder auferstanden und verschickt seine Feldpost noch einmal. Veröffentlicht wird sie von mir seither „tagesaktuell von vor 100 Jahren”. Und zwar für alle sichtbar im Internet.
Konkret heißt das: Ich verschicke über den X‑Account “OpasKrieg” die Feldpost von Franz Mack, aber auch die Postkarten an ihn und einige seiner Verwandten. Zusätzlich gibt es weitere Informationen auf der eigens dafür eingerichteten Website www.opaskrieg.de.
Bahnbrechende Erkenntnisse für die Geschichtsschreibung des Ersten Weltkrieges sind nicht zu erwarten. Aber grade die Art und Weise wie Opa und die Familie in ihrem Alltag mit der Urgewalt des Krieges umzugehen versuchen, finde ich überaus spannend.
Der Blog von Christian Mack:
https://der-mack.de/blog/2014/11/28/erster—weltkrieg—opas—krieg/
Copyright: Agentur für Bildbiographien, www.bildbiographien.de, 2015 (überarbeitet 2024)
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Vor 100 Jahren: Die Hölle von Verdun
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Bildnachweise:
Agentur für Bildbiographien (Original Christian Mack)
Opas Krieg, Christian Mack
By Oeuvre personnelle — Photographie personnelle prise près de l’ossuaire de Douaumont, Public Domain